Wisla

Wisla von Josef Dabernig beginnt mit dem Bild eines Architekturfragments. Das turmartige Gebäude im Stil eines harten Neoklassizismus läßt an die totalitäre Architektur faschistischer oder stalinistischer Systeme denken. Von hier aus zieht der erste Kameraschwenk entlang des Horizonts über einige modernistische Wohnbauten und endet schließlich mit dem Bild einer wiederum neoklassizistischen Kollonade. In dieser ersten Einstellung scheinen zwei verschiedene Welten aufeinanderzutreffen. Die Normalität der Zweckbauten, in denen sich irgendein Leben ereignet, ist gerahmt vom Pathos einer Monumentalarchitektur, deren Zweck es im allgemeinen ist, die Gegenwart einer höheren Ordnung zu demonstrieren.
Es hat zunächst den Anschein, als wären die beiden Männer in Anzug und Krawatte, die in der zweiten Einstellung ernst und entschlossen einen Gang durchschreiten, Agenten einer solchen Instanz. Sobald sie ins Freie treten, erhellt sich die Szenerie als die eines Stadions, und man identifiziert die Männer als „Fußballtrainer“, die auf einer Betreuerbank Platz nehmen. Während das Stadion sonst menschenleer und ziemlich desolat ist, vermittelt die Tonebene die Hochstimmung gefüllter Ränge zu Beginn eines Spiels. Wieder entsteht diese Diskrepanz von profaner Leere und ritualisierter Fülle. Dem kollektiv hergestellten und erlebten Spektakel eines unsichtbaren Spiels, in das die Menge Emotionen investiert und das ihr Sinn gibt, steht auf der Bildebene die konzentrierte Aufmerksamkeit der „Trainer“ gegenüber. Ihre Gesten und Gebärden, die dem Repertoire realer Trainer auf das Genaueste nachempfunden sind, lassen weder Emotionen erkennen noch Rückschlüsse auf den Verlauf des imaginären Spiels zu. Die Mimik der Professionellen verändert sich auch nicht, als die euphorischen Schlachtgesänge der Fans mehr und mehr in Pfiffe und Buhrufe übergehen. Dasselbe Setting, das für die einen ein anderer Raum ist, ein Raum des Heraustretens aus irgendeinem Leben, der Projektionen zuläßt und Identifikation ermöglicht, ist für die anderen gewohnte Arbeitsumgebung.
Josef Dabernig beobachtet in Wisla die Körpersprache von Trainern mit exakt derselben konzentrierten Aufmerksamkeit, welche die Protagonisten des Films dem unsichtbaren Spiel entgegenbringen. Man könnte aus dem Repertoire einer solchen Körpersprache ebensogut slapstickhaften Klamauk machen oder es als signifikant für männliche Verhaltensweisen hinstellen. Von beidem ist Wisla etwa gleich weit entfernt. Der Film ist weder komisch noch offensichtlich kritisch. Seine primäre Qualität liegt sicher in der überzeugenden Repräsentation eines spezifischen Verhaltens und der Evokation des zugehörigen Kontextes, ohne diesen weiter zu illustrieren. Aber der Film lebt ebenso sehr von seinen Diskrepanzen: zwischen den leeren Rängen und der Geräuschkulisse, zwischen dem polnischen Stadion und den italienischen Tonaufnahmen.
Als die „Trainer“ das Stadion verlassen und die Kamera noch einmal entlang des Horizonts über die Häuser schwenkt, verkündet der Stadionsprecher den Tabellenstand. Damit ist eine Ordnung wieder hergestellt, die für einen Spieltag in Auflösung war. Und die Individuen, die sich für die Teilhabe an jenem Moment der Auflösung zu einer Menge geformt hatten, nehmen wieder ihren Platz in irgendeinem Leben ein. Die „Trainer“ dagegen, als Repräsentanten einer abgeklärten Professionalität, nehmen währenddessen auf der Ehrentribüne Gratulationen entgegen.

Josef Dabernig’s Wisla starts with the image of a fragment of architecture. The tower shaped building in the rigidly neo-classical style leads one to think of totalitarian Fascist architecture or about the Stalinist system. From here the camera swivels along the horizon and moves over several modern living blocks and comes to a sudden stop at the image of yet another neoclassical colonnade. In this first sequence two separate worlds seem to come together: The normality of the utilitarian buildings, in which the life of anyone whoever takes place is framed by the pathos of a monumental architecture, whose purpose is general to demonstrate the presence of a higher order.
In the next sequence the two men in suit and tie who are seriously and decidedly walking through a passage way, seem to be agents in such an instance. As they move into the open, it becomes apparent that they are in a stadium, and we can recognize them as “football coaches” who sit down on a bench. Although the stadium is rather empty and somewhat desolate, the sound begins to grow to a level like that before the start of a game. Again there is a discrepancy between the profane emptiness and ritualised fullness. The concentrated attention of the “coaches” is in contrast to the collectively produced and experienced spectacle of an invisible game, in which the masses invest emotions and in turn receive meaning. Their gestures and movements, which are exactly modelled on the repertoire of real coaches, let neither their emotions be known nor belie the imaginary outcome of the game. The mimicry of the professionals doen’t even change as the cheering of the fans turns to hisses and cat-calls. The same setting, that for some is one type of place, a place to step out of their ordinary lives and to project themselves and possibly with something, for others is only an ordinary workplace.
In Wisla, Josef Dabernig watches the coaches body language with the same exact concentrated attentiveness that the actors in the film bring to the invisible game.From the repertoire of such a body language one could easyly take slapstick material or one could make it out to be typically male behaviour. Wisla is equally distant from both of them. The film is neither comical nor openly critical. Its primary quality lies in the convincing representation of a specific habitus and the evocation of the respective context without further illustrating it. But the film takes a lot from its discrepancies, from the empty stands to the roaring noise from the Polish stadium and the Italian recording.
As the coaches leave the stadium and the camera once again swivels over the houses, the stadium announcer is reading the Standings. With this a certain order is again set in place, which for one round had been dissolved. And the individuals, who in that moment of dissolution had formed the masses, return once again to their ordinary lives. The coaches, however, as representatives of a mellow professionality receive congratulations on the grand stand.

Plateau of Mankind. Harald Szeemann (Hg.) für La Biennale di Venezia, 49˚Esposizione Internazionale d’Arte, Venedig, 2003. Electa Bd. 1. S. 96-97

Christian Kravagna
2001