Strukturelle Rätselspiele in Raum und Zeit

Eine unbelebte Straße in einer grauen Vorstadt. Ein Kleinbus fährt vor. Ein Mann steigt aus, betritt einen Spielsalon und beginnt an einem Automaten zu spielen, Frau und Kind bleiben im Auto sitzen. Von Beginn an ist auf der Tonspur ein Hörspiel von Bruno Pellandini etabliert, in dem sich alles um Erbschaften, Bodenschätze und Statussymbole dreht. Während das letztlich vierstimmige Geplänkel von einem schnatternden, großbürgerlichen Sprechduktus bestimmt wird, scheint im Bild ein Sozialdrama verborgen zu sein. Warum lässt der Mann Frau und Kind im Auto zurück, während er im Spiellokal sein Glück versucht?
Eine Frage, die HERNA (2010), der jüngste Film von Josef Dabernig, nicht beantwortet und stattdessen an sein Publikum weitergibt. Das listige Spiel mit narrativen Andeutungen ist eine elementare Konstante im filmischen Werk des 1956 in Kötschach-Mauthen geborenen Künstlers. Bei aller strukturellen Bauweise und fotografischen Klarheit hält er so seine Filme stets in einer rätselhaften Schwebe, wie auch die komplexen Kontradiktionen von Bild und Ton, die in HERNA formgebend sind, maßgeblich dazu beitragen. Schon in seinem Debüt WISLA (1996) wird das Auftreten eines Trainers und Kotrainers in einem menschenleeren, baufälligen Fußballstadion in Polen mit der Lärmkulisse eines italienischen Fußballmatchs kontrastiert. Durch die zwei widersprüchlichen Wirklichkeiten auf visueller und akustischer Ebene tut sich, wie so oft in Dabernigs Filmen, ein eigener, imaginärer Raum auf. Der analytische Blick auf architektonische Formen und (öffentliche) Räume ist denn auch ein unverkennbares Charaktermerkmal von Dabernigs filmischem Schaffen und steht im direkten Zusammenhang mit seiner Bildenden Kunst, die seit jeher mit dem dialektischen, gesellschaftskulturell geprägten Verhältnis von Raum und Wahrnehmung befasst ist. Dabei sind die von einem in Worten und Bewegungen überaus sparsamen Figurenpersonal durchmessenen Räume weniger Kulissen als vielmehr selbst Handlungsträger, wenn nicht gar Hauptdarsteller: urbane Randzonen (HERNA, JOGGING; 2000), sozialistisch-modernistische Hotelinterieurs (ROSA COELI; 2003, eine filmisch-literarische Erinnerungsstudie, die wie HERNA auf einem Hörtext von Bruno Pellandini aufbaut), Landstraßen, Autobahnen, Züge (LANCIA THEMA, 2005; PARKING, 2003; WARS, 2001) oder in ihrer Umgebung surreal anmutende Schwimmbecken (AQUARENA, 2007; in Koregie mit Isabella Hollauf).
Im »Sich-Bewegen« durch diese Räume lässt Josef Dabernig stets die Zeit sichtbar werden, mit all ihren Implikationen: dem Verfall und dem Vergehen, der Geschichte, der Wehmut und den existenzialistischen Fragen nach dem Woher, Wohin und Wie lange (warum sich beispielsweise in seinem gemeinsam mit Markus Scherer 1998 realisiertem »Bergdrama« TIMAU drei halbuniformierte Männer über unwegsames Gelände plagen, erschließt sich erst gegen Filmende). Diese Tiefgründigkeit verbindet Dabernig gekonnt mit dem scheinbar Trivialen, wie Fußball oder Autos (wie etwa in seiner semiotischen Werkstattgroteske AUTOMATIC, die 2002 in Kollaboration mit der Grazer Künstlergruppe G.R.A.M. entstanden ist), was nicht zuletzt für die Beckett’sche Mischung aus Komik und Melancholie verantwortlich ist.
Die Trägheit der Zeit wird in besonderer Weise in Dabernigs wohl komponiertem Raum-Triptychon HOTEL ROCCALBA (2008) spürbar. In und um das titelgebende, renovierungsbedürftige Hotel werden an einem sommerlichen Nachmittag wortlos Socken gestrickt und Haare geschoren, wird Holz gehackt, Kaffee getrunken, Blicken ausgewichen und ein Fahrrad repariert. Meditative Handlungen, die schon seit Jahren, so scheint es zumindest, unverändert getätigt werden. Interessantes Detail am Rande: Als Darsteller hat Josef Dabernig, der in seinen Filmen nicht selten selbst vor die Kamera tritt wie er auch gerne Rollen mit Künstlerkollegen und Freunden besetzt, acht Mitglieder seiner Familie rekrutiert. Im Vergleich zu seinen übrigen Filmen wirkt HOTEL ROCCALBA denn auch erstaunlich belebt, zudem wird hier einmal mehr sein starker Italienbezug augenscheinlich. Den Soundtrack liefert das seltsam vertraut wirkende Gemisch aus den Sprechkaskaden einer italienischen Fußballmatch-Radioübertragung und einer Verdi-Oper. Auch in LANCIA THEMA greift Dabernig für seine Autofahrt über marode Bergstraßen und durch vernachlässigte Kulturlandschaften Italiens neben Schubert auf Verdi und Bellini zurück. Immer wenn er die Fahrt unterbricht und aussteigt, um sein Auto zu fotografieren, schwenkt die Kamera ins Umland und lenkt den Blick auf die Sedimente vergangener Epochen und legt so unterschiedliche Bedeutungsoptionen frei. Nicht von ungefähr hat Dabernig für die Carte Blanche zu seiner Retrospektive zwei italienische Altmeister ausgewählt, deren Filme ihm als Inspirationsquelle dienten: Pier Paolo Pasolinis IL VANGELO SECONDO MATTEO (I 1964) und BRUTTI SPORCHI E CATTIVI (I 1976) von Ettore Scola. Ohne italienisches Kino und ohne italienische Autos hätte der von persönlichen Obsessionen und kulturellen Diskursen gleichermaßen geprägte filmische Kosmos von Josef Dabernig heute wohl eine andere Gestalt.

filmarchiv – Programmzeitschrift Nr. 68 des Filmarchiv Austria (Hg.), 2010. S. 61-62

Lukas Maurer
2010