Panorama, Bühne, Arena. Ansichten von Gesellschaft und Geschichte im fotografischen Werk von Josef Dabernig

Die Fotografie nimmt im Gesamtwerk von Josef Dabernig eine widersprüchliche Stellung ein. Seit den achtziger Jahren kontinuierlich betrieben, stellt sie die umfangreichste aller Werkgruppen dar. Die fotografischen Arbeiten sind allerdings zugleich die am wenigsten bekannten, denn der Großteil von ihnen wurde bisher nicht ausgestellt oder publiziert. Mit Ausnahme einer Ausstellung im Jahr 1997 fand die Fotografie erst ab 2000 Eingang in verschiedene Projekte mit öffentlichem Charakter. Die Existenz hunderter Fotos, von denen nur ein Bruchteil über den engeren Freundeskreis hinaus Bekanntheit erlangte, rechtfertigt es nicht automatisch, überhaupt von einer fotografischen Werkgruppe zu sprechen. Wo und wie eine alltägliche und (bis zu welchem Grad?) „private“ Praxis der Bildproduktion zu einem „Werk“ wird, soll hier nicht grundsätzlich geklärt, sondern an einem Beispiel erläutert werden. Die Arbeit Proposal for a New Kunsthaus, not further developed, entwickelt für eine Ausstellung im Grazer Kunstverein 2004, gibt einer Reihe von Aufnahmen aus den Jahren 1995-2003, die während verschiedener Reisen entstanden waren, einen neuen Rahmen. Ansichten von Gebäuden, Innenräumen und Details, ursprünglich ohne direkten Zusammenhang, werden beschriftet und damit als mögliche Bestandteile eines „neuen Kunsthauses“ ausgewiesen. Ein billiges Speiselokal aus Lodz wird zum restaurant space, ein ärmliches Hotelzimmer aus Süditalien zur guest room structure of a proposed New Kunsthaus umgedeutet und so zum ironisch-kritischen Kommentar auf den Grazer Kunsthaus-Hype am Beginn des 21. Jahrhunderts. Alte Bilder unterschiedlicher Herkunft und häufig ohne dezidiert künstlerische Intention erlangen in Proposal … neue Bedeutung als Bausteine einer Konzept-Arbeit, die als solche von der Historizität und Kontingenz ästhetischer Einstellungen handelt.1

Diese nachträgliche Lesart einzelner Fotografien vor dem Hintergrund bestimmter zeitgenössischer Entwicklungen oder Diskurse entspricht, wie ich später zeigen möchte, einem historisierenden Aspekt von Dabernigs fotografischer Einstellung. Für die Frage nach dem fotografischen Werk sei zunächst lediglich festgehalten, dass während zweier Jahrzehnte ein fotografisches Archiv entstanden ist, das zwischen privaten und künstlerischen Bildern nicht grundsätzlich unterscheidet und einen Fundus an Material für Projekte diverser Natur darstellt, seien das Ausstellungen, Filme oder Kunst-am-Bau-Arbeiten. Die materialisierten Bilder der Fotografie spielen in diesem Zusammenhang eine ähnliche Rolle, wie sie die mentalen Bilder der Erinnerung für einige von Dabernigs Filmen spielen, die – wie WARS oder Jogging – auf gelebten Momenten und deren nachträglicher Narrativierung, Verfremdung oder ästhetischer Überhöhung beruhen. Ein Prinzip lässt sich hier festhalten: was gesehen, erfahren und – im Fall der Fotografie – festgehalten wird, ist zunächst weitgehend offen, verharrt auf der phänomenologischen Ebene, ehe die konkrete Erscheinung/Situation dann im Rahmen eines späteren Projekts zu einer Geschichte oder Szene elaboriert und semantisch verdichtet wird. Sehen wir uns dazu noch ein Beispiel an, das die nachträgliche Ausarbeitung einer Fotografie illustriert. In Lancia Thema, seinem neuesten Film, spielt Josef Dabernig einen Autofahrer, der immer wieder aussteigt, um seinen Wagen zu fotografieren. In diesen Szenen kehrt – dramatisiert – ein lapidares Motiv aus einigen Fotografien der frühen neunziger Jahre wieder, die das jeweilige Auto des Künstlers an irgendeinem Straßenrand zeigen. Damals, lange vor der ersten öffentlichen Präsentation fotografischer Arbeiten, bildete das Autokennzeichen den Ausgangspunkt konzeptueller Grafiken, während die Fotos selbst über den Wohnbereich von Freunden nicht hinaus kamen, wo sie einen hybriden Status zwischen Kunstwerk und persönlichem Erinnerungsstück einnahmen. Eine fotografische Praxis existiert also lange vor dem „pictorial turn“ in Dabernigs Arbeit, der sich um die Mitte der neunziger Jahre mit dem ersten Film Wisla und der Ausstellung Berlinführer vollzieht und eine zweite Karriere nach den konzeptuellen Objekt- und Textarbeiten früherer Jahre begründet. Die bildhaften Arbeiten seit dieser Wende gründen auf einer fotografisch erworbenen Ikonografie und Bildsprache, auf deren Semantik sie wiederum durch Text, Reihung und Narration zurück wirken können.

Bevor ich mich auf die Frage der Geschichte und des Gesellschaftlichen in der Fotografie von Josef Dabernig einlasse, möchte ich ein Motiv zur Sprache bringen, das neben dem bereits erwähnten Auto eine bemerkenswerte Kontinuität aufweist. Als sich um 1995 der „pictorial turn“ in Dabernigs (veröffentlichter) künstlerischer Arbeit vollzieht, ist es kein Zufall, dass das erste Produkt der Wende zum Bild, der Film Wisla, auf dem Motiv des Stadions basiert. Der Film beginnt und endet mit einem Panoramaschwenk über das Wisla-Stadion in Krakau und rahmt so die zirkuläre Struktur der filmischen Handlung. Der Kameraschwenk grenzt das Feld des Sichtbaren als Handlungs- und Ereignisraum ein. Dieses Verfahren entspricht einer Reihe fotografischer Panoramen von Stadien, Fußballplätzen und Arenen, die zwischen 1993 und 2002 zwischen Süditalien und Litauen aufgenommen wurden. Die drei- bis sechsteiligen Ansichten von Einrichtungen des öffentlichen und organisierten Schauens wiederholen das Rund beziehungsweise Oval der Arenen und setzen den Blick des Fotografen/Betrachters mit den Blicken einer (imaginären) Zuschauermenge in eins, die Teil des Spektakels ist. Vergleichbar der Rückbezüglichkeit des Autofahrers in Lancia Thema, der aussteigt, um sein Auto zu fotografieren, verdeutlichen diese Arbeiten den Operationsraum der fotografischen Einstellung als einen begrenzten und selbstreferentiellen. Innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen bilden diese Ereignisräume Mikrogemeinschaften auf Zeit, die durch ihre Rituale der Interaktion sowohl vom Leben jenseits der Arena abgetrennt als auch von der jeweiligen Gesellschaftsordnung überformt sind. Bemerkenswert an diesen Panoramen ist die Gleichzeitigkeit einer fotografischen Bescheidenheit, die sich in der Assimilation der Darstellungsweise an ein sozial verankertes Dispositiv von Zeigen und Betrachten manifestiert, und der Varianz ihrer Befunde, die soziale und politische Differenzen innerhalb dieses regulierten Dispositivs kenntlich macht. Ausgehend vom Fußball als einer globalen Kultur mit festen Regularien zeigen sich solche Differenzen weniger auf dem Spielfeld als an seinen Rändern. So ist die Eleganz der Form des Schalgiris-Stadions in Vilnius oder des Wisla-Stadions in Krakau durch Elemente eines harten architektonischen Monumentalismus gebrochen, die von der ideologischen Interpretation des populärkulturellen Spektakels künden, während etwa der improvisierte Sportplatz inmitten des urbanen Lebens von Pozzuoli integraler Bestandteil einer kommunalen Öffentlichkeit ist.

Wie Josef Dabernig in diesen Panoramen, bei allem Interesse für die Architektur der Arenen, den Blick auf ihre ideologische Determination und ihre soziale Interpretation verlagert, so handelt seine erste Ausstellung nach der Wende zum Bild, Berlinführer, 1997, im Künstlerhaus Bethanien, von ideologisch und historisch begründeten Differenzen in der Wahrnehmung von Stadt. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatten um Berlins architektonische Umgestaltung und den adäquaten Baustil der neuen Hauptstadt stehen in Dabernigs Bild-Texttafeln handschriftliche Exzerpte aus verschiedenen Berlinführern Fotos von Rasterfassaden einiger Berliner Gebäude gegenüber, die zum Teil auch in den Führern zur Sprache kommen. In den Büchern Ganz Berlin Ost, 1993, Architekturführer DDR/Berlin, 1976, und Architekturführer Berlin, 1991, die Dabernig als Quellen heranzieht, unterliegen dieselben Bauten und Plätze einer äußerst unterschiedlichen Darstellung und impliziten Bewertung.

Die komparatistische Lektüre der Stadtführer zeigt, wie die Form der Deskription von Architektur von jeweils anderen Konstellationen politischer, weltanschaulicher und ästhetischer Einstellungen durchdrungen ist. Sie gibt darüber Aufschluss, wie zum Beispiel die unausgesprochene Bewertung eines Gesellschaftssystems in die formale Beschreibung von Architektur hineinspielt. Eine anti-sozialistische Einstellung, die beispielsweise davon ausgeht, dass die Menschen in einem solchen System notwendigerweise unglücklich sind, spricht immer wieder von der „Trostlosigkeit“ bestimmter Fassaden. Eine bestimmte Annahme über die Auslöschung des Individuums im Sozialismus kann dafür verantwortlich sein, dass in Bezug auf Ostberliner Architektur von „Proportionslosigkeit“, „Grobschlächtigkeit“, „schamloser Glätte“ und „Unpersönlichkeit“ die Rede ist oder, etwa in Bezug auf den Alexanderplatz, von „gähnender Leere“ und „steriler Anordnung“. Man kann wohl mit gutem Grund davon ausgehen, dass eine Beschreibung derselben Bauten und Plätze anders ausgefallen wäre, würden diese nicht als Produkte einer ungeliebten Gesellschaftsordnung wahrgenommen. Solche Beschreibungen sind jedoch nicht bloß westlich-liberalistisch unterfüttert, sondern auch postmodern. So werden mit dem Sozialismus auch architektonische Modernismen abgewertet. Umgekehrt erkennt man in der betont an Material und Bautechnik orientierten Deskription des DDR-Bandes der siebziger Jahre eine spätmodernistische Fortschrittsgläubigkeit, die wiederum mit sozialistischem Stolz verbunden wird. Diesen diskursiven Zurichtungen urbaner Oberflächen korrespondiert in Dabernigs Fassadenfotos eine optische Verzerrung der geometrischen Raster, die sich aus der extremen Nahsicht der Gebäude ergibt, als ob das Streben nach größtmöglicher Objektivität zwangsläufig seinen Gegenstand verfehlen müsste.

In Berlinführer spielt die Fotografie nicht unbedingt eine untergeordnete Rolle, doch die wesentlichen Informationen zur historischen und ideologischen Determination von Wahrnehmung und Darstellung kommen aus den Texten. Ihnen steht als eine von vielen möglichen fotografischen Einstellungen der übersteigerte Formalismus gegenüber, der sich nur für die Oberfläche interessiert, damit aber auch Architektur als Projektionsfläche verschiedener ideologischer Einschreibungen markiert. Es existiert daneben auch eine große Anzahl von Fotos, die mit ausschließlich bildlichen Mitteln Fragen zum Verhältnis von urbanem Raum, Ideologie und Geschichte behandeln. Wenn ich oben davon gesprochen habe, dass in Dabernigs konzeptuellen oder filmischen Werken seit Mitte der neunziger Jahre fotografische Bilder narrativ reinterpretiert werden, so soll nun von der geschichtlichen Dimension in den Bildern selbst die Rede sein. Dabei muss zugleich das Motiv der Arena, wie es anhand der Panoramen beschrieben wurde, in einem weiter gefassten Sinne mit berücksichtigt werden. Arena meint hier einen relativ abgegrenzten Raum, der in bestimmter Hinsicht eine kleine, eigene Welt als Mikrokosmos innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen definiert, einen Raum, der sowohl seinem Umfeld enthoben als auch in das soziale Ganze integriert ist.
1989 entsteht auf einer der ersten Fahrten über die slowakische Grenze nach der politischen Wende eine Serie von Schwarz-Weiß-Fotografien eines mobilen Vergnügungsparks in Petrzalka. Vor dem eindrucksvollen Hintergrund der rationalistischen Wohnblocks einer Trabantenstadt von Bratislava aus den siebziger Jahren sieht man verschiedene, bereits in die Jahre gekommene Karussells, die von einigen Kindern benutzt werden. Ihr Kreisen steht im Kontrast zur orthogonalen Lebensrealität in der Plattenbausiedlung, ebenso wie manche folkloristische Elemente der Karussell-Dekoration das Andere des strikten Modernismus der Architektur verkörpern. Manche der Bilder, in denen man die Kinder regelrecht über den Dächern ihrer Häuser schweben sieht, verdeutlichen die Funktion der Unterhaltungseinrichtung als Gegenwelt zum sozialistischen Alltag. Doch die kleinen Düsenjets und die kegelförmigen Raumkapseln der Ringelspiele machen deutlich, wie selbst diese Orte der Überschreitung des Alltäglichen vom Geist der Ideologie und ihrer Symbolik durchdrungen sind.
Im Jahr 2002, bei einem neuerlichen Besuch in Petrzalka, traf Josef Dabernig wieder auf denselben temporären Vergnügungspark, um feststellen zu müssen, dass an den gleich gebliebenen Konstruktionen anstelle der Motive des Kalten Krieges mittlerweile solche der Disneywelt angebracht waren. Die ideologische Kolonialisierung von Nischen der Lebenswelt durch die Ikonografie der Raumfahrt und des Militärischen war einer Bildwelt des Neokapitalismus gewichen, während sich das Szenario im Hintergrund kaum verändert hatte. Dabernig hat diese symbolische Neuadjustierung nicht mehr fotografisch festgehalten, die (nachträgliche) Lesart seiner alten Aufnahmen ist jedoch ohne Zweifel durch die beobachteten Veränderungen mit bestimmt. Man kann davon ausgehen, dass solche Beobachtungen, die den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel betreffen, in die fotografische Einstellung späterer Jahre einfließen und eine Fotografie hervorbringen, deren historisierende Intentionen stärker ausgebildet sind, als dies in früheren Jahren der Fall war. Wenn Dabernig heute, wie beispielsweise am Rande eines Wohnblocks in Sofia, Klettergerüste auf Spielplätzen fotografiert, die Raketen und Düsenfliegern nachgebildet sind, dann ist die Konnotationsebene solcher Bilder in höherem Maße bestimmt, als sie es 1989 war.
Unter den zahlreichen Fotografien, die einen gesellschaftlichen Umbau am Beispiel urbaner Situationen ansprechen, findet sich die Aufnahme eines Platzes in Sofia, der von einer monumentalen Denkmalanlage optisch beherrscht wird. Die regennasse Fläche vor dem eigentlichen Denkmal ist von ein paar Rampen für Skater besetzt. Obwohl nichts an dem Bild aus dem Jahr 2002 arrangiert ist, erscheint es durch die diagonal in die Tiefe gestaffelten Rampen, die von der mächtigen Symmetrie des Denkmals hinterfangen werden, wie komponiert. Dies verleiht ihm einen bühnenartigen Charakter, und die Abwesenheit realer Akteure lädt zur Imagination einer Handlung ein. Offensichtlich treffen hier zwei Welten aufeinander, die offizielle politische Repräsentation von (nationaler) Größe und die subkulturelle Praxis einer Jugendkultur. Wieder ist das Motiv der Arena präsent als ein Raum des Widerstreits von gesellschaftlichen Vorstellungen auf der Ebene von Darstellung und Selbstdarstellung. Ein Raum, der definiert wurde als symbolische Verkörperung einer vorgestellten Gemeinschaft, zu deren Grundzügen die Totalisierung des Gesellschaftlichen zählt, wird durchkreuzt von den Manifestationen einer auf Differenz pochenden Mikrogesellschaft.
Das Bild handelt zweifellos von Geschichte und einem gesellschaftlichen Umbau. Es lässt allerdings auch einigen Raum, was die konkrete Vorstellung von der Narration dieser Geschichte betrifft. So kann man in einer antagonistischen Interpretation davon ausgehen, dass die offizielle Definition des Platzes als national-heroisch in einer bestimmten Phase des politisch-gesellschaftlichen Umbruchs durch die Graffiti an den Skulpturen und die akrobatische Nutzung subversiv gebrochen wurde und eine einsichtige Stadtverwaltung sich schließlich zur Bereitstellung von Quarterpipes und Rampen veranlasst sah. Man könnte aber auch – von einer mehr pragmatisch-administrativen Vorstellung ausgehend – die temporäre Umwidmung eines aus postsozialistischer Sicht problematisch gewordenen Repräsentationsraums annehmen.
Wie auch immer man dieses Bild liest, seine Qualität und die ähnlicher Bilder liegt in einer Evokation von Geschichte und sozialem Wandel, die ohne Handlung, ohne das Erzählen einer Geschichte im engeren Sinne auskommt. Josef Dabernig hält in seinen Fotos immer wieder Situationen fest, deren Bedeutung aus dem Verhältnis von Anwesenheit und Abwesenheit resultiert. Das Prinzip kommt auch in einigen der Filme zum Tragen, wenngleich diese, dem Medium entsprechend, eine anders geartete Narrativierung dieses Verhältnisses betreiben. In Wisla agieren die „Trainer“ in Abwesenheit der Spieler, in WARS arbeitet das Speisewagenpersonal ohne Gäste, in Jogging begegnen wir während der scheinbaren Anreise zu einem sportlichen Ereignis lediglich einigen Schafen und Hunden. Immer ist in diesen Filmen von einer Diskrepanz zwischen eingeübten Ritualen und ihrer scheinbar wegbrechenden gesellschaftlichen Fundierung die Rede. Das Modell und seine jeweilige Verkörperung fallen auseinander. Am besten illustriert das vielleicht die Schlussszene von Wisla mit der lächerlich-theatralischen Ehrung der Trainer durch deplatzierte Offizielle auf den leeren Tribünen eines armselig gewordenen Stadions mit repräsentativem Anspruch.
In Bezug auf die Fotografien wäre es aufschlussreich – und zukünftige Interpreten werden darum nicht herum kommen – die Ansichtskarten von Architekturen und urbanen Situationen, die Josef Dabernig von seinen Reisen regelmäßig an gute Freunde verschickt, mit seinen eigenen Bildern zu vergleichen. Ein solcher Vergleich würde zeigen, wie sich ein modernistisches gesellschaftliches Ich-Ideal, das sich in der rationalen Organisation des Diversen zu einem Bild von Klarheit und Ordnung manifestiert, von der lebendigen und widersprüchlichen Praxis unterscheidet, die solche idealtypischen Strukturen abweichend interpretiert. Wenn Dabernigs Bilder zweifellos von solchen Differenzen handeln, so tun sie dies meiner Ansicht nach nicht schon immer, denn eine gewisse Modernismus-Nostalgie, die – aus österreichischer Perspektive nachvollziehbar – durch italienische und mittel-ost-europäische Gegebenheiten befriedigt wurde, muss man zumindest in den früheren unveröffentlichten fotografischen Arbeiten konstatieren.

Jene Fotografien, die – wie die Filme – als Repräsentanten des „pictorial turn“ in Dabernigs künstlerischer Entwicklung um die Mitte der neunziger Jahre gelten können, einschließlich vieler früherer Fotos, artikulieren jedoch die Abweichung zwischen einem Ideal-Bild, von dessen Suggestionskraft sich der Künstler selbst möglicherweise nur langsam gelöst hat, und der Varianz seiner sozialen Interpretation. Die einstige, vor allem von der architektonischen Rigorosität ausgehende Faszination an formaler Ordnung und Strenge, die ihre Entsprechung in den mathematisch strukturierten Objekten, den Zigaretten- und Tanklisten sowie den Abschreibearbeiten der achtziger und frühen neunziger Jahre hat, wird nach und nach durch eine Aufmerksamkeit für die Mikrowelten in den Zwischenräumen der gesellschaftlichen Raster ersetzt oder zumindest ergänzt. Mit einer solchen Behauptung muss im selben Atemzug die Feststellung verknüpft werden, dass diese Zwischenräume mit einem unsentimentalen Blick betrachtet werden, der sich von der Nüchternheit des formalistischeren Ansatzes einiges bewahrt hat. Dazu gehört auch, dass die mit der Sozialisierung der Bilder verbundene Narrativierung beziehungsweise Historisierung entweder ganz ohne die Darstellung von Menschen auskommt oder diese zumindest nicht als zentralen Bildgegenstand auffasst. Das Narrative verdankt sich, wie bereits erwähnt, dem Spiel von Anwesenheit und Abwesenheit, wie es sich am Beispiel einer temporären Architektur in Sofia illustrieren lässt. Wieder handelt es sich bei dem auf einem Gehsteig errichteten Gebilde aus Zeltdach, Bar und Podium um eine Art Bühne des sozialen und kommunikativen Akts. Ein Raum, wie durchlässig er auch sein mag, ist symbolisch aus seinem Umfeld herausgehoben und bestimmten Zwecken gewidmet. Dieser Raum ist aber nicht nur symbolisch abgegrenzt, sondern als solcher noch einmal von einer bezeichnenden Gegensätzlichkeit geprägt, die auf das Versprechen einer Transgression des Alltäglichen verweist. Während Bar und Podium in einer an Profanität nicht zu überbietenden Materialität und Ästhetik gehalten sind, ist das Motto zur höheren Bedeutung des Trinkens in einer opulenten Barockform ausgesprochen. „In Vino Veritas“ steht, als wäre es in Stein gemeißelt, auf einer Tafel an der Rückwand der Bude. In Abwesenheit der Trinker haben einige Hunde das Podium für sich in Beschlag genommen, herumlungernd verfolgen sie das aus dem Bild geblendete Geschehen auf der Straße. Beinahe als Umkehrung dieser Szene kann ein weiteres Bild aus Sofia gelesen werden. Hier ist vor dem Hintergrund von Wohnblocks urbanes Brachland zu sehen, anscheinend zwischengenutzt als Abstellplatz für Lastwägen, wo sich zwei Männer, deren konzentrierte Denkerposen offensichtlich einem Brettspiel gelten, für eine gewisse Zeit den kleinstmöglichen Gemeinschaftsraum als einen rein mentalen errichtet haben. Beim längeren Betrachten solcher Bilder, die ein Geschehen vor und/oder nach den festgehaltenen Momenten evozieren, stellt sich immer wieder die Frage nach den Orten oder Räumen, denen anwesende oder abwesende Personen zugehören. Umgekehrt werfen die Fotos Fragen nach der temporären oder dauerhaften Einrichtung von Individuen und sozialen Gruppen in den urbanen Räumen sich wandelnder Gesellschaften auf. Die Erörterung solcher Fragen sieht sich stets mit dem Rahmen der Bühne konfrontiert, also mit den Möglichkeiten und Grenzen fotografischer Darstellung von nicht in erster Linie visuellen Phänomenen.

1 Vgl. Katalog Josef Dabernig, Proposal for a New Kunsthaus, not further developed, Grazer Kunstverein, 2004

Dabernig, Josef. Film, Foto Text Objekt, Bau
Deutsch/Englisch. 212 S. mit ca. 280 s/w Abb., Herausgegeben von Barbara Steiner für GfZK Leipzig. Erschienen im Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 2005. Mit Textbeiträgen von Silvia Eiblmayr, Christian Kravagna, Matthias Michalka, Barbara Steiner und Igor Zabel

Christian Kravagna
2005