Mimesis an Funktionalismus
Im Rahmen eines Rom-Stipendiums hielt sich Josef Dabernig im Winter 1982/83 in Torvaianica, 30 km außerhalb der Metropole auf. Er zeichnete diesen Ort – die meisten würden ihn wohl als „pragmatisch gewachsen“ charakterisieren – vermaß und übersetzte ihn in Zahlenverhältnisse, mit anderen Worten: Dabernig systematisierte, was er sah. Die Anfangs- und Endpunkte ausgewählter Linienverläufe (Gebäude und Flussverlauf) wurden in ein Koordinatensystem aus x- und y-Werten übertragen und nach dem pythagoreischen Lehrsatz a2+b2=c2 verdreifacht. D.h. ein rationales, aber subjektiv gewähltes System bildete die Grundlage einer Reihe von formalen Operationen. In den ersten Skizzen bzw. Konstruktionszeichnungen blieben die Schritte zunächst zwar (zumindest theoretisch) nachvollziehbar, nach und nach war jedoch der Ausgangspunkt nicht mehr erkennbar. Die erste Plastik Dabernigs von 1983/1984 aus Formstahlrohr – dreidimensionales Resultat dieser, zunächst in den Zeichnungen ausgeführten und in Zahlen übersetzten Mutationen – gibt sich innerhalb dieser Logik auch systematisch und transparent im geistigen Nachvollzug und doch hermetisch in der Anschauung: Systematisches Vorgehen in Bezug auf die künstlerische Methode und rationaler Nachvollzug stehen subjektiv gesetzten Ausgangsparametern und ästhetischer Betrachtung gegenüber. Ein weiteres Beispiel von 1990: In W 288 826 zerlegte Dabernig die Autonummer seines Unfallfahrzeugs1 in einen Raster von 4 Vertikal- x 15 oder 16 Horizontaleinheiten; diese bildeten den Ausgangspunkt für lineare Progressionen, bis die Autonummer irgendwann überhaupt nicht mehr zu erkennen war, trotz potentieller „Rück-Berechenbarkeit“ der Zahlenkolonnen. In beiden Fällen setzte Dabernig auf ein rationales System, das mehr und mehr Autonomie beansprucht, sich völlig von jeglichen Bindungen ans Sichtbare befreit und ästhetischer Selbstzweck wird. Der Ästhetik kommt dabei die Rolle zu, Sand ins Getriebe der Rationalität (und später auch des Funktionalismus) zu streuen, und umgekehrt befördert der rationale Ansatz eine kritische Auseinandersetzung mit dem Mythos originären künstlerischen Schaffens bzw. subjektiver Formfindung.
Seit den frühen 90er-Jahren basieren Dabernigs Skulpturen zunehmend auf einfach nachvollziehbaren Ordnungssystemen, wobei ihr Ausgangspunkt innerhalb des jeweils verwendeten Materials selbst liegen kann, wie etwa in der Profilbreite, und/oder in den Dimensionen des Ausstellungsraumes. Je nach Raumsituation wurden und werden die Rahmen- und Kantenplastiken neu installiert und damit den räumlichen Verhältnissen angepasst, insbesondere was die Progressionen und Abstände zwischen den einzelnen Elementen einer Serie anbelangt. Mitunter vergrößert oder verkleinert sich etwa ein gleichförmig wirkendes Raster geringfügig oder eine der horizontalen oder vertikalen Größen bleibt gleich, während eine andere variiert. (Formale) Abweichungen sind entweder in die Arbeiten selbst eingebaut oder sie entstehen in Konfrontation mit ihrem jeweiligen (architektonischen) Umfeld. Schmutz oder Korrosionsspuren an den von Dabernig verwendeten Elementen fungieren ebenfalls als bewusst eingesetzte Störstelle. Auch in Bezug auf die verwendeten Mittel kam es 1989 zur Reduktion auf drei Elemente, die in der Fassadentechnik Verwendung finden: in den Längen variable Profile mit l-förmigem und u-förmigem Querschnitt, sowie Montagewinkel. Diese Halbfertigprodukte, gedacht als Trägerelemente von Fassadenverkleidungen, werden – entfunktionalisiert – entweder direkt an die Wand gedübelt, angelehnt oder gestapelt. In seinen Arbeiten für den Salle de Bal in Wien (1995), die Neue Galerie in Graz (1996) oder das Klagenfurter Künstlerhaus (1993) setzte Dabernig diese funktionale Herkunft der Profile und Winkel gezielt ein: Die Raster überzogen die vorhandene Architektur, so als ob diese nun – unter neuen, rationalen Prämissen – alsbald überarbeitet bzw. verkleidet würde. Die Diskrepanzen, die sich zwischen den Innen- oder Außenräumen und Dabernigs Alu-Raster auftaten, markierten aber auch in Architektur materialisierte ideologische Konflikte, etwa zwischen Vormoderne, Moderne und Postmoderne.
Ende 1993 wurde Dabernig zu einer Ausstellung in das Ambrosi-Museum in Wien eingeladen. Dieses Haus, einst Atelier von Gustinus Ambrosi, einem aus historischer Sicht umstrittenen österreichischen Staatskünstler, beherbergt seit 1992 neben einer Ambrosi-Gedenkstätte auch Wechselausstellungen zeitgenössischer Kunst. Durch das geschickte Platzieren seiner Arbeiten im ehemaligen Wohnhaus und Atelier Ambrosis gelang es Dabernig, eine auf Rationalisierung, Transparenz und Entmystifizierung zielende (aufklärerische) Haltung, mit Mythen vom heroischen Schöpfertum und idealen Menschenbild, exemplarisch verkörpert durch Ambrosi, zu konfrontieren. Gleichzeitig kritisierte Dabernig durch den autonomen ästhetischen Anspruch seiner Arbeiten zweckgerichtete Rationalität und puren Funktionalismus. Das Konzept der Rationalität wird dabei als grundsätzlich ambiguid thematisiert: Einerseits steht dieses für Aufklärung, Vernunft geleitetes Handeln, Transparenz und damit Nachvollziehbarkeit, Emanzipation, andererseits ist es weder frei von politischer und ökonomischer Instrumentalisierung noch von ihrem Rückfall in die Mythologie. Theodor Adorno und Max Horkheimers Unterscheidung zwischen kritischer und instrumenteller Rationalität, zwischen kritisch-reflexivem Denken mit emanzipativem Anspruch und jenem, das sich Zweckdenken und Kalkulation unterwirft, mag einem in den Sinn kommen.2 Diese zwei Formen der Rationalität ähneln sich auf den ersten Blick, verfolgen jedoch völlig unterschiedliche Absichten. Im Zuge des Prozesses der Rationalisierung verengte sich kritische Rationalität mehr und mehr auf instrumentelle, d.h. nicht länger das Projekt der Emanzipation trieb die Entwicklung voran, sondern die Effizienz und Funktionalität eines Systems. Dabernig setzt in seinen Objekten bei der Diskrepanz von kritischer und instrumenteller Rationalität an, nämlich genau dort, wo Aufklärung und Rationalismus sich im kritischen Diskurs über eben dieses Verhältnis befinden. Er verwendet rational nachvollziehbare Methoden der Werkgenerierung, arbeitet seriell und unter Einbeziehung der jeweiligen Raumökonomie, nutzt standardisierte Elemente, die an pragmatisch orientierte Tür-, Fenster- oder Fassadenunterkonstruktionen erinnern, zerlegt oder stapelt seine Objekte. Dies alles kann durchaus als Ausdruck eines ökonomischen Zweckdenkens, eines rationalistischen Denkens, gelesen werden. Aber auch wenn die nach strengen Regeln angeordneten Alu-Raster Rationalismus und Funktionalität assoziieren lassen, emanzipieren sich diese vom funktionellen Anspruch, indem Rationalität subjektiven Ausgangsparametern unterworfen wird, Abweichungen von gegebenen Strukturen eingebaut sind und die Objekte – jedenfalls an dem ausgestellten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt – nicht mehr ihre übliche Funktion haben, sondern bestenfalls im Sinne einer „Ästhetik des Funktionalismus“ zu verstehen sind.
Einer ähnlichen Ambivalenz unterliegt auch seine eigene Künstler-Rolle: Dabernig scheint die eigene Tätigkeit den Erfordernissen einer durch und durch rationalisierten Gesellschaft anzupassen: Höchst diszipliniert – seine Tätigkeit mag dabei mehr an einen gewissenhaften Buchhalter erinnern als an Konventionen freier, künstlerischer Arbeit – werden über Tage und Wochen Berechnungen angestellt und Zahlenreihen erstellt. Diese (freiwillige) Selbstdisziplinierung, denn um eine solche handelt es sich zweifellos, wird auch in anderen Arbeiten Josef Dabernigs deutlich, wenn er etwa 1977 seitenweise F. X. Mayrs Schönheit und Verdauung exzerpiert. Auffällig ist jedoch nicht nur das disziplinierte und disziplinierende Ab-Schreiben, sondern darüber hinaus die sehr präzise Wahl eines Buches, das Disziplinierung beschreibt, diese Haltung quasi in seinem Inhalt widerspiegelt. Denn der Mensch wird bei Mayr primär funktional gesehen, als funktionstüchtige, reibungslos arbeitende Maschine – was auch im Untertitel deutlich wird: „Die Verjüngung des Menschen durch sachgemäße Wartung des Darmes.“ Doch das Subjekt will und kann sich nicht an vorgegebenen Strukturen halten: Die subjektive Handschrift weicht – auch bei größter Anstrengung – immer wieder vom Schriftraster ab und kontrastiert mit dem Inhalt. Diese formale Abweichung muss durchaus als gesellschaftliche gelesen werden, mit anderen Worten: Die Selbstreglementierung spiegelt gesellschaftliche Reglementierung und Kontrolle über das Subjekt wider, wie sie durch rationalisierte Systeme zum Ausdruck gebracht wird, sie ist aber von Dabernig modellhaft künstlerisch inszeniert. Man könnte in diesem Zusammenhang von Mimesis sprechen. Die Dabernig’sche Methode erinnert auch diesbezüglich an Adornos frühe Kritik an der instrumentellen Rationalität: Für Adorno bedeutete Kunst eine Verweigerung, sich (kapitalistischem) Zweckdenken unterzuordnen,3 wobei der kritische Charakter von Kunst in Bezug zu ihrer mimetischen Qualität gefasst wurde. Denn erst durch Mimesis – indem sich Kunst nämlich in eine Ähnlichkeit zur sozialen Realität begibt –
kann sie eine kritische Beziehung, unter Wahrung der Distanz, zu eben dieser etablieren. In den Worten Adornos: Kunst muss zur „Mimesis an ihr Widerspiel“ werden. Während andere gesellschaftliche Bereiche zunehmend durch eine instrumentelle Praxis dominiert würden, gelänge es der Kunst antithetische Momente von Rationalität und Mimesis, Zeichen und Bild zu beleuchten, ohne deren Opposition durch eine Vereinheitlichung zu eliminieren. Demnach sind – nach Adorno –
Spannungen, Dissonanzen und Paradoxa Grundeigenschaften von Kunst und notwendig, um überhaupt eine kritische Auseinandersetzung mit einer zunehmend funktionell organisierten Gesellschaft zu führen. Bewusst eingebaute Abweichungen von gegebenen Strukturen, ein Anspruch auf Autonomie, Diskrepanzen zwischen Bild und Text, Struktur und Raum sind wesentliche Charakteristika der Arbeit von Dabernig und erlauben eben diese, oben genannte „kritische Beziehung“ zur gesellschaftlichen Realität zu etablieren. Dies trifft nicht nur auf seine Skulpturen, sondern im Prinzip auf alle anderen Werkgruppen zu. Einen besonderen Stellenwert nehmen in Bezug auf die kritische Reflexion rationaler Strukturen seine Kommentare zur funktionalistischen Architektur ein. Wenn Dabernig etwa im Berlinführer, 1996, unterschiedliche (ideologische) Interpretationen von moderner Architektur nebeneinander stellt4 oder in seinem Projekt für interim, 1998, einen „städtebaulichen Kitt zwischen Schloß Plüschow im Mecklenburger Land und der Casa Poporului in Bukarest“5 versucht, dann wird klar, dass rationale Strukturen und ihr funktioneller Anspruch niemals wertfrei eingesetzt wurden und auch heute nicht wertfrei betrachtet werden können. Mehr noch: Sie sind selbst das Produkt einer gesellschaftlichen Positionierung und meist auch einer Ideologisierung, die Konstruktion als Natur ausgibt. Josef Dabernig kontrastiert in diesen beiden Projekten verschiedene gesellschaftliche Wertungen, Bewertungen, unterschiedliche gesellschaftliche Konzepte, Aufklärung und Totalitarismus, DDR, BRD und vereintes Deutschland und macht so die unterschiedlichen ideologischen Aufladungen rationaler Strukturen deutlich. Auch in Proposal for a New Kunsthaus, 2004, widmet sich Dabernig der diskursiven Konstruktion von Architektur, konkret einer Kunstinstitution, auch wenn die Ideologisierung der Architektur nun nicht mehr direkt zu greifen ist und architektonische Zitate aus verschiedenen Zeiten gleichermaßen und wertfrei zur Verfügung zu stehen scheinen. Dabernigs New Kunsthaus verdankt sich keinem homogenen Entwurf eines einzigen Architekten, sondern es handelt sich um eine Kombination unterschiedlicher architektonischer Elemente. So steht der frontal façade die alternative façade, den historisierenden Jugendstilreferenzen funktionalistische Zweckarchitektur gegenüber, Wohnsilos rücken neben eine an sozialistische Zeiten erinnernde Bar, ein Vortragsraum im Keller, das per Hand beschriftete Archiv neben Einfamilienhaus und Hotelzimmer. Bei genauerem Hinsehen gibt sich jedoch die „Jugendstilfassade“ als präfabriziertes Gebäude aus ornamentierten Betonplatten mit Kunststofffenstern zu erkennen, leerstehende Einfamilienhäuser, Hinterhöfe, pragmatisch eingerichtete Hotel- und Badezimmer ergänzen das Proposal for a New Kunsthaus als guest room, security exit oder second entrance. Selbst die Dependance des New Kunsthaus entpuppt sich als eine Bauruine am Meer. Die von Dabernig verwendeten Elemente für das New Kunsthaus verkörpern allesamt Abweichungen von einem gegenwärtigen Wertsystem: Graue Wohnsilos, aufgegebene, verfallene Gebäude, verwilderte Hinterhöfe, das per Hand beschriftete Archiv scheinen heute wertlos, Vergangenheit. Die Abweichung ist eine doppelte: Zum einen lassen die Abbildungen entfernt eine Pragmatik des Postsozialismus durchscheinen, zeigen einen individuell angeeigneten Funktionalismus, das Scheitern einstiger Größe und die Umwandlungen ins Praktisch-Alltägliche. Zum anderen stehen die Bilder in Kontrast zu einer neuen Pragmatik, denen sich auch Kunstinstitutionen angesichts einer kapitalistischen Verwertungslogik zunehmend zu unterwerfen haben. Dabernigs Proposal kokettiert – alleine schon im Titel und in den Abbildungsbezeichnungen –
mit Mechanismen, die aus dem zeitgenössischen Marketing bekannt sind, ohne dieses in den Bildern oder im Katalog einzulösen. Hier können wir einen Bogen zu seinen Skulpturen zurück spannen, die Rationalismus und Funktionalität assoziieren lassen, ohne sich jedoch diesen Prinzipien zu unterwerfen. Dabernigs Arbeiten stehen in einem mimetischen Verhältnis zu Rationalität und Funktionalismus alter und neuer Prägung; bei aller Ähnlichkeit erlauben sie genau jene kritische Distanz, die notwendig ist, Rationalität, Funktionalismus in ihren jeweiligen ideologischen Konfigurationen zu reflektieren.
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1 Laut Dabernig ist dieser Aspekt nicht besonders wichtig. Das ist zwar in Bezug auf die Formgenerierung richtig, aber dennoch erscheint die Information im Sinne des subjektiven Bezugspunktes von Interesse. Dieser liegt oft in der Biografie des Künstlers begründet und bildet den Beginn für seine rationalen Operationen.
2 Max Horkheimer und Theodor Adorno, Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente (1944), Frankfurt a. M, 2004
3 Siehe: Adorno, Theodor, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M., 1973
4 So exzerpiert Dabernig aus Ganz Berlin-Ost von 1993 genauso wie aus dem Architekturführer DDR/Berlin von 1976 oder dem Architekturführer Berlin von 1991. Am Beispiel signifikanter Gebäude um den Alexanderplatz führt er die unterschiedlichen Einschätzungen und Bewertungen der jeweiligen AutorInnen an und stellt diese Texte seinen eigenen fotografischen Aufnahmen aus Ost und West gegenüber.
5 Im Konzeptpapier zum Projekt fragt Dabernig u.a.: „Worin kann ein städtebaulicher Kitt zwischen Schloß Plüschow im Mecklenburger Land und der Casa Poporului in Bukarest bestehen?“, Siehe, in diesem Buch, S. 104
Dabernig, Josef. Film, Foto Text Objekt, Bau
Deutsch/Englisch. 212 S. mit ca. 280 s/w Abb., Herausgegeben von Barbara Steiner für GfZK Leipzig. Erschienen im Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 2005. Mit Textbeiträgen von Silvia Eiblmayr, Christian Kravagna, Matthias Michalka, Barbara Steiner und Igor Zabel