Josef, der Schreiber
Das erste Buch, das Josef Dabernig abgeschrieben hat, trägt den Titel Schönheit und Verdauung. Die Verjüngung des Menschen durch fachgemäße Wartung des Darmes von
F. X. Mayr, dessen Erstausgabe 1920 im Verlag Neues Leben erschien.1 Dass Dabernig dieses Buch wählte, hatte biografische Gründe, eine Stoffwechselkrankheit am Anfang seines Studiums im Jahr 1977, die er jedoch nicht mit einer Diät, sondern mit zweimonatiger schwerer Forstarbeit überwand. Gleichsam als Kompensation schrieb er im Anschluss an seine radikale „Arbeitskur“ das ca. 176 Seiten starke Buch Seite für Seite mit der Hand ab, am Ufer eines Flusses sitzend, eine Unterlage auf den Knien. Das Format der Blätter ist A5; auf deren unlinierte Seiten setzte er beidseitig in leserlicher Schönschrift – einem Schulheft vergleichbar – mit Kugelschreiber seine Abschrift. Im Laufe des mehrere Wochen in Anspruch nehmenden Abschreibprozesses wurde Dabernigs Schrift immer kleiner mit dem Ergebnis, dass das Schriftbild sich zunehmend verdichtete. Jede dieser bis knapp an ihre Ränder ausgeschriebenen Seiten gleicht in ihrer perfekten, regelmäßigen Struktur einem Bild oder Druckwerk, das sich eher einem mechanischen Verfahren verdanken könnte als der menschlichen Hand.
Dabernig versteht die Handlung, die er hier vollzog, als ein Abreagieren, gleichsam ein „Freischreiben“ von schulischen Regeln, denen er als Internatsschüler acht Jahre lang unterworfen war, und zugleich als eine Befreiung von den Vorgaben der Kur, der er sich ja nicht gestellt hatte. Die Disziplinierung, die Dabernigs Schreibaktion – mit allen Härten des „Sitzens bis man nicht mehr sitzen kann“ und der Anpassung seiner Person an einen schreibenden Mechanismus – mit sich brachte, findet bei diesem ersten Buch, das er abschreibt, ihre Entsprechung in dessen Inhalt. Das Regime, die Kur gegen „Verdauungsstörungen“, die der Arzt Franz X. Mayr den Menschen angedeihen lassen möchte, ist äußerst rigide und – seiner Entstehungszeit kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entsprechend – ideologisch aufgeladen. Der Autor verknüpft seine mechanistische Konzeption vom Körper, dessen „Verdauungsapparat“ „gewartet“, „saniert“ oder „gereinigt“ werden muss, mit den damals gängigen, auf den „Volkskörper“ projizierten Phantasmen von „Schmutz“, „Fäulnis“, „Versumpfung“2 und einer damit verbundenen „Schädigung des Wohlstandes des einzelnen, der Familie, des Staates und der ganzen Menschheit“.3
Mit diesem ersten Abschreibewerk begann Josef Dabernig eine in längeren Intervallen immer wieder aufgenommene Praxis, die in seinem konzeptuellen Systemdenken eine
wichtige Rolle spielt. Auf die „F. X. Mayr-Kur“ folgten 1978 assoziativ ausgewählte Texte aus schulwissenschaftlichen Büchern über Botanik, Landschafts- und Naturschutz, Bodenkunde, Kulturgeschichte oder Chemie und Biologie aus der Bibliothek seines Vaters. 1994 während eines Stipendiums in Krakau, das ihn dazu verpflichtete, dort eine Arbeit zu realisieren, kopierte er die 94 Seiten umfassenden letzten Kapitel aus dem Buch La Storia di Napoli, das er für diesen Zweck eigens mitgebracht hatte.
Im Zusammenhang mit einem Wettbewerb für Kunst im öffentlichen Raum in Niederösterreich4 – ein Gemeinschaftsprojekt mit dem Architekten Rudolf Prohazka –
entstand 1995 eine Textabschreibearbeit, die nicht handschriftlich, sondern mittels Computer ausgeführt wurde. Als gleichsam ironische Projektbeschreibung wurde die Wettbewerbseinreichung mit einem komplett abgeschriebenen Kapitel aus einer Abhandlung über „Standpunktbewußtsein und Weltzusammenhang. Das Bild vom lebendigen Spiegel bei Leibniz und seine Bedeutung für das Alterswerk Goethes“5 ergänzt. Das wissenschaftliche Spiegelthema wurde in Bezug zum Konzept für den Wettbewerb gewählt, für das der Architekt vorsah, mittig eines zu einer Kirche führenden Weges zweiundvierzig beidseitig verspiegelte Glastafeln aufzustellen. Für Dabernig war dabei wichtig, dass hier eine filmische Erfahrung zum Tragen kommen sollte: „Wir bewegen uns im ortseigenen Freiluftkino, passieren Projektionswand nach Projektionswand in einer den Gesetzen der Optik folgenden Szenerie. Die bloße Anwesenheit am Kirchenweg aktiviert die Kinofunktion, längs einer Nabelschnur von 42 Aufhellern der Wirklichkeit wandeln wir im selbst definierten Drama oder Epos eines Dokumentarfilms.“6
1996 während eines einmonatigen Aufenthaltes in Berlin nahm sich Dabernig dortige Stadtführer als Vorlagen, aus denen er wiederum handschriftlich Angaben über ihn interessierende Architekturen exzerpierte, ausschließlich Bauten aus Berlin Ost. Für diese Texte dienten ihm insgesamt drei Führer: Einer war 1976 in der DDR erschienen, die beiden anderen stammten aus den Jahren 1991 und 1993. Den „Text-Bildern“ stellte er Fotos von zentralperspektivisch gerasterten Fassadendetails gegenüber.
Das vorläufig letzte handschriftliche Abschreibewerk Dabernigs von 1998 ist die 38 DIN-A4-Seiten umfassenden Kopie des Buches Il territorio dell’architettura von Vittorio Gregotti. Als Vorlage benutzte er eine Ausgabe von 1988 der Publikation des bedeutenden italienischen Architekturtheoretikers, die dieser 1966 verfasst hatte. Dabernig lotete hier bis zur Selbstquälung die Grenzen seiner Fähigkeit zur Kleinschreibung aus. Eine Seite im A4-Format seines Gregotti-Texts hat 87 Zeilen zu je über 90 Zeichen, was einer Schriftgröße von weniger als 8 Punkt entspricht.
In dieser trockenen Aufzählung von Dabernigs Schreibarbeiten tritt zuerst einmal seine scheinbar affirmative Unterwerfung unter das Prinzip der „Ästhetik der Administration“ in den Vordergrund, die Benjamin Buchloh mit Bezugnahme auf Adorno für die Konzeptkunst als Ausdruck für eine „völlig verwaltete Welt“7 konstatiert hat : die schulischen Zwängen gehorchende Schönschreib- und Abschreibübung oder auch die buchhalterische, kontrollierende Akribie, mit der Zigaretten gezählt, Benzinrechnungen und Eintrittskarten gesammelt und notiert werden.
So listet eine andere Art von Aufschreibearbeit, die systemspezifisch jedoch den
Büchern verwandt ist, unterschiedliche Formen seines Konsumverhaltens: Eine auf die Vorder- und Rückseite eines Stücks Pappkarton gezeichnete kalendarische Tabelle gibt Auskunft über seinen Zigarettenverbrauch in der Zeit vom 23. September 1979 bis zum
22. September 1980, den er täglich handschriftlich eingetragen hatte. In seiner Tankstellen- und Benzinstatistik listet Dabernig sämtliche Tankvorgänge zwischen 1995 und 2000 auf mit Angaben zu der Anzahl der Liter und dem Ort, an dem er getankt hatte. Eine weitere gleichartige Statistik wurde im Jahr 2000 begonnen, als er seine Autotype wechselte. Als Beitrag zur Manifesta 3 (2000) schrieb Dabernig eine Liste aller von ihm zwischen 1989 und 2000 besuchten Fußballspiele, umgesetzt wiederum als chronologisch aufreihende Abschreibearbeit sämtlicher auf der jeweiligen Eintrittskarte vorhandener Beschriftungen inklusive der Werbung. Bei den beiden zuletzt genannten Arbeiten wurde ein Computer als Schreibgerät verwendet.
Jedes Dokument gibt uns zugleich auch Einblick in Dabernigs Biografie und Schwerpunkte seines Interesses. Wir erfahren andeutungsweise etwas über seine Lebensgewohnheiten, über zeitlich, räumlich oder geografisch strukturierte Bewegungsabläufe und Tätigkeiten. All dies bleibt allerdings höchst bruchstückhaft und verharrt in einer Unbehagen auslösenden Kontingenz. Bei Versuchen, seinen Motiven auf die Spur zu kommen, lässt Dabernig sein Publikum ins Leere rennen, wie die Protagonisten in seinen Filmen. Zu Rosa coeli (2000) merkt Georg Schöllhammer an, sie würden mit „unirritierbarer mechanischer Routine“ agieren, „in einem Plot, der auf Nichts hinaus läuft als auf ihre nahezu unheimliche Präsenz“. Zu dem Film automatic (2002, zusammen mit G.R.A.M.) schreibt Mária Hlavajová über „vertraute Gesten und Bewegungen, Akte die zugleich aber fragmentiert“ seien und „ohne Verbindungen zueinander“.8
In der „Geschichte“, die Dabernig bereits über Jahrzehnte schreibt, verschränken sich die Systeme. Zum einen sind es Ordnungssysteme, die in scheinbarer Indifferenz seine Texte bestimmen: die Diät, angesammeltes Fachwissen, die Geschichte Neapels, die Stadtführer Berlins, die Architekturtheorie, die Spiegeltheorie bei Leibniz oder die Statistiken zu seinen individuellen Lebensgewohnheiten oder -abläufen. In einer referentiellen Schleife führt Dabernig diese unterschiedlichen Manifestationen von Ordnungssystemen in Aufschreibesysteme über, zu deren Medium und Akteur er sich selbst macht.
Die Funktion, in der der Künstler sich hier in (s)eine Geschichte einschreibt, ist strukturell mehrdeutig. Mit seinem bewusst anachronistischen Rückgriff auf die Handschrift schlägt er den Bogen zurück in das frühe 19. Jahrhundert der allgemeinen Alphabetisierung, jene Epoche, in der, wie Friedrich A. Kittler schreibt, mit der Einführung einer „organisch kohärenten Handschrift“ ein „bürgerliches Individuum aufkommen [darf]“.9 Das Besondere an der „individuellen“ Handschrift war ihre Flüssigkeit, das heißt, dass die Buchstaben zusammenhängend geschrieben werden mussten: „Alles zielt also, seitdem Roßbergs Systematische Anweisung zum Schön- und Geschwindschreiben (1796 – 1811) mit den alten absetzenden Frakturhandschriften aufgeräumt hat, auf eine Ästhetik der ‚schönen und accuraten‘ Verbindung. Wer Blockschrift schriebe, wäre kein Individuum. Weshalb dieses unteilbare Wesen an den Schreibmaschinentypen und Akzidenzschriften von 1900 auch zugrunde gehen wird. Die großen metaphysischen Einheiten, die die Goethezeit erfindet – Bildungsweg, Autobiographie, Weltgeschichte – sind kontinuierlich organischer Fluß, einfach weil ein kontinuierlicher Schreibfluß sie von Kindesbeinen an trägt – nach Gerhard Rühms ironischem Schreibmaschinenbeweis eine handschriftliche Kursive.“10
Die Schreibmaschine transformiert das handschreibende (männliche) Autoren-Subjekt –
verkürzt gesagt – virtuell selbst in ein technisch-mediales Gerät mit entscheidenden Folgen sowohl für seine imaginierte Individualität als auch seine schriftlichen Erzeugnisse. In Grammophon. Film. Typewriter zitiert Kittler Nietzsche: „Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken“.11 „Schreiben bei Nietzsche ist also keine natürliche Ausweitung des Menschen mehr, der durch Handschrift seine Stimme, Seele, Individualität zur Welt bringen würde. Im Gegenteil […] [der] Mensch wechselt seinen Platz: Von der Schreiberschaft zur Schreibfläche. Umgekehrt fällt alle Schreiberschaft in ihrer Gewaltsamkeit einem unmenschlichen Medieningenieur zu, den Stokers Dracula bald beim Namen ruft“ – die ersten Schreibmaschinen hatten das Papier noch „blindlings zerstückelt, bevor Underwood 1897 die Sichtbarkeit einführte.“11 Die Strafkolonie von Kafka wird 1914 geschrieben.
Die Mechanisierung der Schrift und ihre durch die Schreibmaschine ermöglichte Massenproduktion, die im späten 19. Jahrhundert fast ausschließlich von Frauen übernommen wird, untergräbt die Autorschaft des Schreibers. Die automatisierte Gesellschaft der Moderne wird von einer neuen Form struktureller Gewalt durchdrungen, die die Menschen diszipliniert und ihren Regeln unterwirft.
Als Josef Dabernig 1977 mit seinem Exerzieren durch Abschreiben beginnt, setzt er weniger bei der damals zu einem Endpunkt gelangenden Body Art an, die den verletzlichen Körper als (mediales) Material mit teilweise radikalem Pathos inszenierte, als eben bei jenen konzeptuellen Ansätzen, die Buchloh „Ästhetik der Administration“ genannt hat. Nach Buchloh sei es deren Angelpunkt gewesen, das (traditionelle künstlerische) „Objekt räumlicher und visueller Erfahrung durch die linguistische Definition alleine zu ersetzen (das Kunstwerk als analytische Proposition)“, womit der „folgenreichste Angriff auf sein Aussehen und seine Sichtbarkeit, auf seinen Status als Ware und auf seine Form der Distribution“ gemacht wurde.13 Dabernig hatte damals bei dem Bildhauer Joannis Avramidis zu studieren begonnen, an dessen stelenförmigen, abstrahiert anthropomorphen Figuren ihm eines wichtig war: das „konstruierte Modell eines Menschen“ (Dabernig), das ihn u. a. auch bei Hans von Marées oder Oskar Schlemmer interessierte. Ohne seine ersten Abschreibearbeiten als einen bereits gezielt vollzogenen Schritt hin zur Konzeptkunst interpretieren zu wollen, weisen sie doch auf das voraus, was Dabernigs künstlerische Arbeit durchgängig kennzeichnet, ein kontextuelles Denken und Handeln, das linguistische (oder mathematische) und visuelle Zeichen strukturell miteinander verschränkt.
Buchloh sieht die „Integration von Sprache und visuellem Zeichen“, wie sie Sol LeWitt in seiner Arbeit Structures vollzogen hat, als paradigmatisch für die Konzeptkunst. In eben dieser Logik wurde Dabernig dann auch mit LeWitt in Bezug gebracht, da er dessen Forderung erfülle, „wie ein Angestellter“ zu arbeiten, indem er die „Resultate einer Prämisse katalogisiert“ und dabei durch die Ausschaltung von „Emotionen und ästhetischem Kalkül“ für den „künstlerischen Prozess, ein hohes Maß an Rationalität“ ermögliche.14 Die scheinbare Rationalität, die Dabernigs Arbeit auf den ersten Blick kennzeichnet, hat jedoch ihre aporistische Unterseite, vergleichbar dem, was Rosalind Krauss kritisch zu jenen Interpretationen feststellt, für die Sol LeWitts „geometrische Embleme die Illustrationen des Geistes sind, die Demonstration des Rationalismus selbst“.15 Krauss vergleicht LeWitts „System“, das „von Ordnung durchdrungen ist“, mit den Passagen in Becketts Molloy, in denen der Erzähler beschreibt, wie er nach einem von ihm entwickelten Ritual ununterbrochen Kieselsteine lutscht, die er in fortlaufendem Wechsel auf seine vier Manteltaschen verteilt. In streng geregelter Abfolge transferiert er die Kiesel von seinem Mund in die Taschen und von einer in die nächste, auf der Suche nach einer Lösung für sein Ziel, „dass ich nicht die gleichen Steine lutsche wie zuletzt, sondern andere“.16 „Was wir bei LeWitt entdecken“, schreibt Krauss, „ist das ‚System’ des Zwanghaften, des unerschütterlichen Rituals des Zwangsneurotikers, mit dessen Präzision, dessen Ordnungsliebe, diese übertriebenen Exaktheit, die einen Abgrund der Irrationalität überdecken. Insofern ist es eine Ordnung ohne vernünftigen Grund, eine Ordnung, die aus den Fugen läuft“.17
Josef Dabernig bringt einen wichtigen Faktor in die obsessive Systematisierungspraxis der Konzeptkunst ein, nämlich die performative Körperübung: In der seitenweisen, handschriftlichen Aneinanderreihung von Buchstaben und ihrer Transformation in Schriftbilder gerinnt demonstrativ die Zeit, während der er seinen Körper in die Pflicht genommen und ihn zum Instrument und Spiegel von (inneren und äußeren) Systemzwängen gemacht hatte. Es ist ein Schreibakt, der gleichsam als Verweigerung einer „vernünftigen“ künstlerischen Tätigkeit gesetzt wird.
In einer Art Umkehrung hat Dabernig ein literarisches Vorbild, ohne dass er dieses gekannt hätte: Bartleby, der Schreiber von Hermann Melville (1853),18 die tragisch-symptomatische Figur aus einer Zeit, wo zwar die Schreibmaschine noch nicht erfunden war, aber bereits der Morseapparat.19 Bartleby mutiert in Melvilles Geschichte, die im Büro eines Notars in der Wall Street spielt, vom beflissenen, Tag und Nacht arbeitenden handschriftlichen Kopierer von Schriftstücken eines Tages zum Verweigerer: Mit der ständig wiederholten Phrase „Ich würde es vorziehen, es nicht zu tun“ (I would prefer not to), lehnt er jede weitere Abschreibearbeit kategorisch ab, um in der Folge in monotoner Wiederholung es auch – bis zu seiner Selbstauslöschung – „vorzuziehen“, nicht mehr zu essen. Bartleby verzichtet auf sein Mensch-Sein, er verzichtet darauf, ein Subjekt zu sein und in dieser radikalen Konsequenz auf sein Leben. In seiner emotionslosen und absoluten Unnachgiebigkeit verhält er sich wie ein Apparat, der einfach nicht mehr funktioniert oder, in landläufiger Diktion, „seinen Geist aufgegeben hat.“
Die Aporie der aufkommenden Moderne, die sich in Bartlebys „Unvernunft“ ankündigt, reflektiert Josef Dabernig in ihrer postmodernen Ausprägung. Der Mensch bewegt und verhält sich in Systemen von Selbststeuerung und Regelkreisen nach unterschiedlichen, nicht einsichtigen Vorgaben. Er fungiert als Instrument und Medium, als Rechner oder Prozessor und zugleich als Schreib- oder Spiegelfläche in einer Welt kontingenter Systeme, in denen er – mit Jean Baudrillard – in der „anthropologischen Ungewissheit“ verbleibt, ob er „Mensch oder Maschine“ sei.
Dabernig, der exakte Beobachter und Registrator, spielt mit den Mitteln der Irritation unterschiedliche Varianten von „Zurichtungsentwürfen“ durch, um diese – speziell in seinen Filmen – durch Ironie zu unterwandern. In seinen grundsätzlich ambivalenten Arbeiten gelingt es ihm, im scheinbar Konventionellen und im korrekt Formalen Vorgaben für unsere Konditionierungen aufzuspüren und darüber hinaus einen Metatext zum Zustand einer alltäglichen Biografie zu schreiben.
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1 Franz X. Mayr, Schönheit und Verdauung. Die Verjüngung des Menschen durch fachgemäße Wartung des Darmes (1920, Verlag Neues Leben), 5. Auflage, Verlag Neues Leben, Bad Goisern, 1975.
2 Klaus Theweleit, Männer Phantasien. 1. Band; Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Verlag Roter Stern, 1977.
3 Mayr, op.cit.
4 Künstlerischer Wettbewerb Weg Hagenbrunn, 1995, Kooperation mit Rudolf Prohazka, nicht realisiert.
5 Jürgen Nieraad, Standpunktbewußtsein und Weltzusammenhang. Das Bild vom lebendigen Spiegel bei Leibniz und seine Bedeutung für das Alterswerk Goethes, 1970, Studia Leibnitiana Supplementa, (Hg. Kurt Müller u. Wilhelm Totok), Band VIII, Franz Steiner Verlag, Wiesbaden, 1970, S. 118 – 136.
6 Josef Dabernig/Rudolf Prohazka, Begleittext zur Wettbewerbseinreichung (1995), Wiederabdruck in dieser Publikation, S. 42.
7 Benjamin H. D. Buchloh, From the Aesthetic of Administration to Institutional Critique (Some Aspects of Conceptual Art 1962 – 1969); in: Claude Gintz, L’art conceptuel, une perspective, Katalog, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, 1989, S. 41 – 53.
8 Georg Schöllhammer, fahren, stehen, fahren. ›automatic‹, ›Parking‹, ›Rosa coeli‹ – drei neue Filme von Josef Dabernig; in springerin, Hefte für Gegenwartskunst, Sommer 2003, S. 60. Mária Hlavajová, Fade In. Films by Josef Dabernig; in: Katalog Fade In. Films by Josef Dabernig, 2003, BAK/basis voor actuele kunst Utrecht.
9 Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme. 1800.1900, Wilhelm Fink Verlag, (1984), 4. Auflage 2003, S. 101.
10 Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme. op.cit., S. 102.
11 Friedrich Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, Brinkmann und Bose, Berlin, 1986, S. 293.
12 ibid., S. 305; „Eine Schrift, die Körperteile blindlings zerstückelt und Menschenhäute durchlöchert, stammt notwendig von Schreibmaschinen vor 1897, als Underwood endlich Sichtbarkeit einführte. Peter Mitterhofers Modell 2, der hölzerne Schreibmaschinenprototyp von 1866, hatte im Unterschied zur Malling Hansen nicht einmal Typen und Farbband. Stattdessen perforierten Nadelspitzen das Schreibpapier – zum Beispiel, gut nietzscheanisch, mit dem Eigennamen des Erfinders“.
13 Buchloh, From the Aesthetic of Administration to Institutional Critique, op.cit., S. 41
14 Günther Holler-Schuster, Betreff: ‚Montage – System’ 1996; in: Katalog Josef Dabernig „Montage System“, Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz 1996.
15 Rosalind E. Krauss, LeWitt in Progress (1977); in: R. E. Krauss, Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne (Hg. Herta Wolf), Schriftenreihe zur Geschichte und Theorie der Fotografie, Bd. 2, aus dem Amerikanischen von Jörg Heininger, Verlag der Kunst, Amsterdam, Dresden, 2000, S. 301.
16 Krauss, LeWitt in Progress, op cit., S. 312; Zitat aus Molloy: „An diesem Punkt halte ich ein und konzentriere mich, denn darauf kommt es an, keine Dummheit zu begehen. Nun versehe ich meine rechte Manteltasche, in der keine Steine mehr sind, mit den fünf Steinen aus meiner rechten Hosentasche, die ich durch fünf Steine aus meiner linken Hosentasche ersetze. Jetzt ist es soweit, daß aufs neue keine Steine mehr in meiner linken Manteltasche sind, während meine rechte Manteltasche wieder mit Steinen versehen ist, und zwar solchen von der richtigen Art, das heißt, mit anderen als denen, die ich gerade gelutscht habe […]“ Aus: Samuel Beckett, Molloy (1965), übersetzt von Erich Franzen, Frankfurt/Main, Suhrkamp 1975, S. 84.
17 Krauss, LeWitt in Progress, op.cit., S. 309.
18 Krauss, LeWitt in Progress, op.cit., S. 309.
19 Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, op. cit., S.281: „Und als Samuel Morse 1840 seinen Kabeltelegraphen patentierte, war eine Nachrichtentechnik auf dem Markt, deren Lichtgeschwindigkeit alles Handwerk deklassierte.“
Dabernig, Josef. Film, Foto Text Objekt, Bau
Deutsch/Englisch. 212 S. mit ca. 280 s/w Abb., Herausgegeben von Barbara Steiner für GfZK Leipzig. Erschienen im Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 2005. Mit Textbeiträgen von Silvia Eiblmayr, Christian Kravagna, Matthias Michalka, Barbara Steiner und Igor Zabel