Eröffnungsrede zur Ausstellung "Berlinführer" von Josef Dabernig im Künstlerhaus Bethanien, Januar 1997
Gehen wir davon aus, daß Josef Dabernigs Ausstellung den Titel "Berlinführer" trägt und daß es meine Aufgabe ist, dazu eine Art "Einführung" zu liefern, dann stellt sich gleich ein gewisses Problem: ich kenne zwar die Arbeit von Dabernig relativ gut, ich kenne aber Berlin nur sehr wenig. Für einen Auswärtigen, sagen wir jemanden aus Wien, stellt sich seit einigen Jahren "Berlin" als ein Ort dar, der für eine Vielzahl von Projektionen offen ist. "Berlin" ist aus der Fernsicht heute jener Ort in Europa, an dem sich ein ganzes Bündel an Diskussionen hinsichtlich des status quo und der Zukunft spätkapitalistischer Gesellschaften überschneidet. Eine Stadt, die so grundlegend im Umbau begriffen ist, steht fast zwangsläufig als Metapher für weitreichendere Umbauten politischer, ökonomischer und sozialer Strukturen.
Aus Wiener Sicht jedenfalls hat die Dynamik und Entschlossenheit einer urbanen Umgestaltung im großen Stil zunächst etwas ungeheuer Faszinierendes. Aus der Perspektive einer Stadt, die sich seit dem 19. Jahrhundert städtebaulich und architektonisch kaum verändert hat, und in der fast jeder Neubau ideologische Fronten auf den Plan ruft, kann man oft neidvoll auf eine nach vorne gerichtete Beweglichkeit blicken.
Natürlich stellt man bei einiger Überlegung sehr bald fest, daß diese Dynamik und Entschlossenheit im wesentlichen die Dynamik und Entschlossenheit des Kapitals sind, welches sich hemmungslos und relativ unbehindert ein neues Zentrum verschafft. Es zeigt sich auch, daß die Tyrranei der Geschichte, wie man sie in Wien findet, in eine Tyrranei der Profitmaximierung umschlagen kann. Über all diese Fragen sind Sie zweifellos besser informiert als ich, weshalb ich hier auf weitere Verallgemeinerungen verzichten möchte.
Ich möchte allerdings noch auf einen anderen Aspekt der Wiener Perspektive auf Berlin verweisen, ein Aspekt, der auch in der hier gezeigten Ausstellung mitschwingt. Es handelt sich dabei um eine nicht vorrangig urbanistische, sondern um eine gesellschaftspolitische Perspektive, von der ich glaube, daß sie sich von einem Blick unterscheidet, der aus England, Amerika oder Frankreich auf Berlin geworfen werden kann. Geht man davon aus, daß Berlin bis zu dem bewußten Datum den verdichteten Gegensatz zwischen sozialistischer und kapitalistischer Gesellschaftsordnung repräsentierte, dann hat dieser konzentrierte Gegensatz für Österreich eine ganz besondere Bedeutung. Denn während in Berlin bis zum Fall der Mauer die gegensätzlichen Gesellschaftsmodelle einander unmittelbar gegenüberstanden, so kann man für Österreich feststellen, daß sich dieses Land bis zu etwa dem selben Zeitpunkt nie wirklich zwischen den Modellen Sozialismus und Kapitalismus entscheiden konnte. Was in Berlin als Mauer den Gegensatz der Systeme symbolisierte, das zog sich in Österreich durch das kollektive Bewußtsein, wobei man hier anstelle der Mauer eher das Bild des Reißverschlusses wählen müßte, als Bild der gleichzeitigen Verbindung und Trennung zweier Seiten. Die politische Entscheidung zugunsten des Kapitalismus fällt in Österreich erst seit wenigen Jahren und sicher nicht unbeeinflußt vom vorläufigen "Endsieg" des Kapitalismus, wie er sich in Berlin paradigmatisch ablesen ließ.
In der Arbeit von Josef Dabernig geht es zunächst einmal um Orientierung. Um die Orientierung einer Person, die den skizzierten Hintergründen entstammt, in einer Stadt, von der ihr manches, vor allem aus der jüngsten Geschichte, bekannt ist, mit der diese Person, in dem Fall der Künstler, jedoch keine konkreten Erfahrungen verbindet. Dabernig, der den vergangenen September in Berlin verbrachte, mußte sich also, wie jeder andere auch, so etwas wie ein Koordinatensystem erstellen, welches die Bewegungen in einer erstmals besuchten Stadt leiten kann. Dafür gäbe es natürlich verschiedene Modelle, etwa persönliche oder professionelle Kontakte zu bestimmten Personen, an deren Koordinatensystem sich anschließen ließe. Es gäbe auch die Möglichkeit des direkten, versuchsweisen Eintauchens in Bewegungsströme, aus dem sich dann in einem trial and error-Verfahren nachträglich Orientierung ableiten ließe.
Dabernig wählt aber das gewissermaßen touristische Modell und nimmt mehrere Stadt- bzw. Architekturführer zur Hand. Dieses Vorgehen basiert allerdings weniger auf dem Interesse des Touristen, in kurzer Zeit das Wichtigste sehen zu können, als vielmehr auf einem Interesse daran, in welcher Weise sich eine Stadt selbst repräsentiert. Die Arbeit der Repräsentation, also der Prozeß, durch den ein heterogenes und disparates Phänomen wie "Stadt" in eine konsumierbare Lektüre übersetzt wird, diese Arbeit kann leicht übersehen werden, wenn man nur einen Stadtführer konsultiert. Jede Darstellungsweise tendiert dazu, sich als eine dem Dargestellten angemessene zu verkaufen. Die Kategorien der Selektion und die subjektiven oder interessegeleiteten Ordnungen und Bewertungen des Repräsentierten können jedoch in einer parallelen Lektüre mehrerer Stadtführer evident werden. Dabernigs Abschriften an der einen Längswand der Galerie stammen aus den Büchern "Ganz Berlin Ost", 1993, Architekturführer DDR/Berlin, 1976, und "Architekturführer Berlin", 1991.
Wenn Sie in diese Abschriften hineinlesen, dann werden Sie sehen, wie eine Sprache, die sich als Beschreibung ausgibt, jeweils unterschiedlich ideologisch motiviert ist. Dieselben Bauten oder Plätze unterliegen einer äußerst differenten Darstellung und impliziten Bewertung. Es wäre sicher überzogen, hier alle Differenzen auf ideologische Färbungen zu schieben. Gewiß gibt es auch einfach typologische Differenzen. Die klar auf Touristen zugeschnittenen, manchmal erzählerischen "Spaziergänge" des einen Führers, der an bestimmten Erfahrungsqualitäten sich bewegender Subjekte interessiert ist. Oder auf der anderen Seite die eher technische, teils in Fachsprache abgefaßte, Orientierung am einzelnen Objekt, seinen Materialien und Konstruktionsprinzipien. Auch historisch bedingte Differenzen der Sichtweisen könnte man ausmachen, reicht doch der Zeitrahmen von 1976 bis 1993.
Dennoch ist es höchst aufschlußreich, wie zum Beispiel die unausgesprochene Bewertung eines Gesellschaftssystems in die formale Beschreibung von Architektur hineinspielt. Eine anti-sozialistische Einstellung, die beispielsweise davon ausgeht, daß die Menschen in einem solchen System notwendigerweise unglücklich sind, spricht immer wieder von der "Trostlosigkeit" von Fassaden. Oder eine bestimmte Annahme über die Auslöschung des Individuums im Sozialismus ist verantwortlich dafür, daß im bezug auf Ostberliner Architektur von "Proportionslosigkeit", "Grobschlächtigkeit", "schamloser Glätte" und Unpersönlichkeit die Rede ist, oder in bezug auf den Alexanderplatz von "gähnender Leere" und "steriler Anordnung". Man kann wohl mit gutem Grund davon ausgehen, daß eine Beschreibung derselben Bauten und Plätze anders ausfallen würde, wären diese Bauten nicht Produkt einer ungeliebten Gesellschaftsordnung.
Eine Beschreibung des Alexanderplatzes, die sich an den "windigen Weiten" stößt, ist heute insofern brisant, als die gegenwärtigen Berliner Bauaktivitäten unter anderem gerade auf eine Zerstörung der großzügigen städtebaulichen Ensembles der sechziger Jahre ausgerichtet sind. Vielleicht können wir Wiener diese Großzügigkeit mehr als andere schätzen, weil wir davon nie etwas abbekommen haben. Oder weil sich in Wien die postmoderne "Tyrranei der Intimität" nahtlos aus dem 19. Jahrhundert herleitet und sie nie durch eine moderne Konzeption von Öffentlichkeit unterbrochen war. In Bezug auf Berlin hat etwa Oliver Elser im letzten "Texte zur Kunst" die gegenwärtige Entwicklung als eine beschrieben, die öffentliche Räume immer mehr verschwinden läßt bzw. sie in die Innenräume kommerzieller Bauten hineinzieht und letzlich auch noch die schmalen Außernräume privatisieren wird. Dem Autor des Führers "Ganz Berlin Ost", der angesichts des Alexanderplatzes das Fehlen von Nähe und die mangelnde Möglichkeit zu berühren beklagt, kann wahrscheinlich durch eine Baupolitik geholfen werden, die unter dem Schlagwort "Nachverdichtung" läuft.
Josef Dabernigs komparatistische Lektüre von Stadtführern kann also im Sinne einer Diskursanalyse begriffen werden, die das Spiel oder den Kampf der gesell-schaftlichen Interessen in ihren sprachlichen Manifestationen findet. Man kann diese Form der Diskursanalyse auch als Ideologiekritik verstehen, wenn man etwa davon ausgeht, daß Volosinov schon in den zwanziger Jahren Ideologie als den "Kampf antagonistischer Gesellschaftsinteressen auf der Ebene der Zeichen" definiert hat.
Eine Frage werden Sie sich aber sicher stellen: Ist es denn nicht anachronistisch, eine solche Diskursanalyse handschriftlich abzufassen? Interessanterweise bricht genau an dem Punkt, wo ich diese Frage stelle, auch der Computerausdruck meiner Aufzeichnungen ab, und sie setzen sich handschriftlich fort. Das ist auf der einen Seite Zufall, aber dieser Zufall ist auch schon Teil der Antwort auf Dabernigs scheinbar unzeitgemäße Vorgangsweise.
Daß meine Gedanken hier handschriftlich fortgesetzt werden, hat seinen Grund darin, daß sie gestern abend im Zug formuliert wurden. Schreibweisen sind also nicht nur intentional, sondern auch kontextuell bestimmt. Dabernigs Handschriftlichkeit beruht zum Teil darauf, daß man sich eben nicht mit Computer oder Schreibmaschine ausrüstet, wenn man sich für vier Wochen in eine andere Stadt begibt.
Der Einwand, man hätte die entsprechenden Textstellen auch kopieren können, ist berechtigt und erfordert ein weiteres Argument. Die kontextuelle Determination von Schreibweisen ist nämlich nicht bloß eine technische. Im konkreten Fall Dabernigs könnte man, um sich diese nicht nur veraltete, sondern durchaus auch stupide Abschreibearbeit zu erklären, auf frühere Arbeiten des Künstlers zurückgreifen.
Es existieren bisher zwei größere Abschreibearbeiten. Die eine stammt noch aus der Studienzeit und bezog sich auf ein Buch über Ernährung und Verdauung. Die zweite, schon viel weniger skurile Arbeit entstand vor wenigen Jahren im Zusammenhang eines Stipendienaufenthalts in Krakau. Damals hatte Dabernig einige Kapitel aus der "Storia di Napoli" abgeschrieben. Neapel, als durch ungezählte Aufenthalte affektiv besetzter Ort, fungierte hier als identifikatorischer Hintergrund im Rahmen einer künstlichen Situation, nämlich für längere Zeit an einem Ort zu sein, wo man eigentlich nichts Bestimmtes zu tun hat.
Diese Arbeiten knüpfen an eine bestimmte Linie der Konzeptkunst an, die auf der konsequenten Befolgung relativ irrationaler Vorgaben beruht. "Lächerlich einfache Ideen", wie Sol LeWitt sagt. Aber es geht darin auch immer um einen Prozeß der Selbstverortung. In bezug auf die Berliner Arbeit habe ich eingangs von der Notwendigkeit der Orientierung als Ausgangspunkt gesprochen. Zu diesem Orientierungspostulat, das die Lektüre der Stadtführer bestimmt, steht die Schreibarbeit in einem gewissermaßen kompensatorischen Verhältnis. Als ein Moment der Konzentration steht sie der völligen Auslieferung an jene neuen Strukturen gegenüber, in denen es sich zu orientieren gilt.
Es bleibt eine weitere Frage: wie verhalten sich die Fotografien zum Text? Sie sind gewiß nicht als Illustrationen zu verstehen, wenngleich hier einige Bauten vorkommen, die auch in den Texten beschrieben werden. Man wird diesen Nahaufnahmen von Rasterfassaden, die in den meisten Fällen all over-Strukturen erzeugen, eine gehörige Portion Formalismus attestieren können. Was diesen Formalismus meiner Ansicht nach interessant macht, ist gerade die Beschränkung auf die Oberfläche der Architektur. Diese erweist sich dadurch als Projektionsfläche für unterschiedliche ideologische Einschreibungen. Wenn diese Fotos auch durchaus an geometrische Abstraktionen in der Malerei erinnern können, dann denke ich, von der Bild-Text-Gegenüberstellung ausgehend, dennoch eher an eine frühe Arbeit von James Coleman. Coleman projiziert das Foto eines durchschnittlichen Platzes und läßt unterschiedliche Beschreibungen dieses Platzes durch verschiedene Personen dazu auf Tonband abspielen. Bei Dabernig geschieht ähnliches, nur sind die Differenzen individueller Sichtweisen, wie sie Coleman thematisiert, auf die Ebene ideologischer Differenzen hinaufgeschraubt. Wenn Coleman die Un-Eindeutigkeit der Bilder demonstriert, dann demonstriert Dabernig die ideologische Färbung vorgeblich deskriptiver Sprechweisen.
auszugsweise wiedergegeben in Be Magazin, Künstlerhaus Bethanien, Berlin, 1998. S. 94-95