Dabernigs Bauten

Die Architektur ist sicherlich einer der wesentlichsten Aspekte in Dabernigs Arbeit. Um ihre Rolle zu verstehen, sollte uns bewusst sein, dass man sie nicht als isoliertes, abgeschlossenes Gebiet betrachten kann. Die Frage der Architektur (und der Stadtplanung) zieht sich durch die meisten, wenn nicht durch all seine Interessensgebiete, angefangen von Objektkunst und Zeichnung bis zu Film, Fotografie und die von ihm abgeschriebenen Bücher. Wenn wir also über Dabernigs architektonische Arbeiten reden, müssen wir auch die anderen Bereiche seiner Kunst in Betracht ziehen. Ich bin der Meinung, dass wir seine Architekturprojekte nicht richtig verstehen können, wenn uns nicht bewusst ist, dass Vorschläge und Lösungen auf seinen mannigfachen Überlegungen zu Form und Raum und deren Funktionen basieren.

Eine Sache, die in Dabernigs Arbeit unmittelbar auffällt, ist die Vorliebe für rationale, formal minimale und präzise geordnete Strukturen. Ganz allgemein könnte man sagen, dass es die Architektur der Moderne ist, die im Zentrum seiner Interessen liegt. Von Las Vegas zu lernen scheint ihm kein Anliegen zu sein. Trotzdem mag es paradox erscheinen, dass Komplexität und Widerspruch in der Architektur die Themen sind, die immer wieder im Zentrum der Beschäftigung mit ihr stehen. Irgendwie gelingt es ihm, sie auch in den strengsten und rationellsten Konzepten und Formen wie etwa den gerasterten Fassaden aufzuspüren. Diese Komplexitäten und Widersprüche sind nicht nur formaler Art (auch wenn sie oft formal sind); tatsächlich hat er sich nie nur für die formale Seite von Gebäuden und anderen Raumstrukturen interessiert. Architektur steht für soziale und politische Geschichte, verschiedene Ideen und Ideale der sozialen Ordnung, unterschiedliche Reaktionen und Arten des Verständnisses, und es ist dieses Netz von Bedeutungen und Interpretationen, das die Komplexität ausmacht.

Nehmen wir als Beispiel die Arbeit Berlinführer (1996). Sie besteht aus einer Serie von streng frontal aufgenommenen Fotografien modernistischer Berliner Fassaden und aus Manuskriptseiten, die er aus Berliner Stadt- und Architekturführern abgeschrieben hat. In der Arbeit kommt deutlich sein Interesse an der Architektur der Moderne und ihrer grundsätzlichsten Form, dem Raster, zum Ausdruck. Die rasterförmigen Fassaden erwecken ganz besondere Assoziationen; wir sehen sie und denken an Büros, Sozialwohnungen, Firmen, vielleicht Industrie. So geht es also nicht bloß um visuelle Formen, sondern eher um das visuelle Equivalent sozialer Formen und Ordnungen. Irgendwie scheint es, als ob die Arbeit sich im Spiegel des Rasters auf den eigentlichen Geist der Moderne bezieht. Was er jedoch auch zeigt, ist die aktuelle Diversität dieser fundamentalen Form. Und es gibt noch einen anderen wichtigen Aspekt: die Fotografien zeigen Architektur aus Ost- wie aus Westberlin, und wenn man die Gebäude nicht zufällig kennt, ist es schwer zu sagen, welche nun aus dem Osten und welche aus dem Westen stammen. Die Fotografien spiegeln sich in gewisser Weise in diesen verschiedenen, aus den Führern herauskopierten Beschreibungen wider, in der Verschiedenartigkeit wie man ein und dasselbe Gebäude verstehen und einordnen kann. Die Rasterform scheint repetitiv und unveränderlich zu sein, und doch haben in diesen Beschreibungen die verschiedenen Raster verschiedene Werte und Bedeutungen – nach der Meinung der Autoren und ihrer jeweiligen ästhetischen und ideologischen Präferenz. Rosalind Krauss wies in ihrem bekannten Aufsatz über „Raster“ auf die innere Widersprüchlichkeit des Rasters als modernistische Form hin: „Therefore, although the grid is certainly not a story, it is a structure, and one, moreover, that allows the contradiction between the values of science and those of spiritualism to maintain themselves within the consciousness of modernism, or rather its unconscious, as something repressed.“1 Da gibt es diese verdrängten Widersprüche (nicht nur die von Wissenschaft und Spiritualismus, sondern auch die inhärenten Widersprüche der Moderne), welche in Berlinführer und anderen Werken Dabernigs durch scheinbar distanzierte und unpersönliche Praktiken wie Kopieren und Fotografieren zu Tage treten. Eine Strategie, die sich Dabernig zu Nutze macht (abgesehen davon, dass er auf Divergenzen in verschiedenen objektiv und wissenschaftlich geschriebenen Architekturführern und die Spannung zwischen solchen Beschreibungen und dem tatsächlichen Aussehen der Gebäude hinweist), ist die Einführung kleiner Unregelmäßigkeiten, die manchmal auf den ersten Blick fast nicht auffallen. So werden zum Beispiel die beiden vertikalen Fassaden in den Berlinserien horizontal präsentiert. Zuerst bemerkt man es kaum, weil andere Bilder auch horizontal sind. Dieser kleine Scherz ist als ironisches Spiel zu verstehen und richtet sich nicht nur auf den Ernst und die Systematik der Arbeitsweise des Künstlers, sondern auch auf die Wichtigkeit des Diskurses der Moderne. Man könnte zum Beispiel die horizontale Präsentation von vertikalen Gebäuden als spielerische Formulierung der postmodernen Kritik verstehen, die besagt, dass es der Architektur der Moderne, besonders in der Verwendung des Rasters, an der traditionellen Gliederung fehlt und dass sie sich nicht um die grundsätzlichen Raumverhältnisse und -hierarchien wie unten/oben, links/rechts usw. kümmert.

Diese kleinen Unregelmäßigkeiten könnte man auf zweierlei Arten interpretieren, einerseits als Hinweis auf das persönliche Involviert-Sein des Künstlers und andererseits auf eine gewisse ironische Distanz in der Herangehensweise, z.B. wie er mit großen Narrativen und ihrer Ernsthaftigkeit umgeht. Sehr oft arbeitet Dabernig mit unspektakulären, ja sogar anonymen oder unpersönlichen Beispielen von Architektur- oder Innenraumdesign: Bürogebäude, Wohnblocks, Autobahnen. In vielen Fällen zeigt er Vorstädte, Peripherien oder soziale Randgebiete (aus Osteuropa oder Süditalien), in denen die modernistische Architektur anscheinend nie voll entwickelt war, nie fertig gebaut wurde oder nicht funktioniert hat und nun langsam verrottet. Selbst wenn er Stadtzentren oder Repräsentationsarchitektur fotografiert (manche der Gebäude aus der Berlinserie sind ziemlich bekannt), unterscheiden sie sich nicht wesentlich von anonymer Architektur. (Andererseits haben seine Arbeiten genau den umgekehrten Effekt; es gelingt ihm, die konzeptuellen und formalen Stärken sonst unbeachteter Gebäude und Innenräume aufzuzeigen. Erinnern wir uns nur daran, wie Dabernig in seinem Film WARS unsere Aufmerksamkeit auf das elegante, modernistische Design im Restaurantwagen des Zuges richtet.) Sein Interesse am Unspektakulären, Statischen, formal Minimalen kommt in seiner Kameraführung zum Ausdruck. Die Bilder sind statisch, distanziert, klar komponiert und zeigen deutlich eine systematische Herangehensweise. Und dennoch geht von diesen unspektakulären, ja unpersönlichen Motiven in Dabernigs Arbeit eine seltsame Attraktivität aus. Obwohl seine Annäherung distanziert, objektiv und systematisch ist, ist sein Interesse nicht das eines kühlen Professionellen, der nur am Sammeln und Zusammenstellen von Fakten interessiert ist. Es verrät vielmehr eine ganz bestimmte persönliche Beziehung. Diese Strukturen scheinen eine seltsame Anziehungskraft auf ihn auszuüben, und seine Arbeit strahlt eine Kraft aus, die diese Beziehung vom Künstler auf den Betrachter/die Betrachterin überträgt.

Als Dabernig seine Filme in Vilnius zeigte, nannte sie eine Kunstkritikerin langweilig.2 In einer höchst interessanten Internetdiskussion stellte sich aber heraus, dass etliche Besucher die Filme mochten und sogar sehr attraktiv fanden. Ich glaube, dass dieses Phänomen auf die Doppelnatur seiner Arbeit zurückzuführen ist – die statische, unspektakuläre Natur seiner Themen und Herangehensweisen mag den Eindruck erwecken, seine Arbeiten sind programmatisch langweilig; aber die spezielle Intensität, diese Aura ungewöhnlicher Anziehungskraft, die Dabernig seinem Gegenstand verleiht, erklärt das Interesse des Publikums.

Wir sollten diese Anziehungskraft jedoch nicht mit romantischer Ästhetisierung verwechseln. Es passiert in letzter Zeit öfter, dass zum Beispiel die postsozialistische, postindustrialisierte Landschaft3 Osteuropas (aber auch Phänomene wie die Sozialwohnungsblocks in den Vorstädten westlicher Großstädte) einen gewissen Enthusiasmus ob ihres exotischen Aussehens und sogar eine Art ästhetischer Idealisierung hervorruft. Auch osteuropäische Künstler sind heute schon so weit von den Erfahrungen der sozialistischen Gesellschaft entfernt, dass sie dem, was noch davon übrig ist, mit einer Mischung aus Nostalgie, Interesse am Exotischen und einer Art von ironischem Spott begegnen.4 Es hat sich (nicht ohne Grund) ein Widerstand gegen diese Art von Idealisierung formiert – sie sei eigentlich pervers, weil sie etwas zu einer rein ästhetischen Erfahrung mache, was einst entmenschlichte, deprimierende und manchmal wirklich unerträgliche Lebensumstände für Millionen von Menschen waren. Dabernig versucht nicht, die dunkle Seite dieser abgewohnten, aus der Mode gekommenen und nie renovierten Räume und anonymen Gebäude aus der Moderne, die er zeigt, zu verstecken. Wenn sie auch eine starke, fast obsessive Anziehungskraft ausüben, so ist diese ambiguid, und der Künstler hat kein Interesse, diese Ambiguität zu verbergen. Man denke nur an sein Envisioning Bucharest – ein utopisches Projekt zur urbanen Entwicklung der rumänischen Hauptstadt. Die Arbeit geht von Ceausescus Palast aus, für den ein großer Teil der Stadt demoliert wurde und der das Stadtbild ziemlich aus dem Gleichgewicht gebracht hat. In seinem Vorschlag hat Dabernig weder versucht die physische (und ideologische) Brutalität des Palastes (in letzter Zeit wird dieser häufig als spektakuläre Touristenattraktion gesehen) zu verbergen, noch das von ihm verursachte Trauma zu unterdrücken. Er schlug vielmehr einen Weg vor wie das Trauma zu überwinden sei, indem man es als Ausgangspunkt für eine Neugestaltung der urbanen Struktur benützt.

Dabernigs Interesse an solchen Orten und Strukturen steht natürlich in Zusammenhang mit seiner Arbeit und deren minimalistischer, systematischer, unspektakulärer Art. Es scheint manchmal, dass er diese unspektakulären (eigentlich sogar anti-spektakulären) Bilder als Entwurf gegen die Spektakulisierungsprozesse in der Welt einsetzen möchte. Sein Proposal for a New Kunsthaus, not further developed erscheint in diesem Licht als ironischer Kommentar zu den Auswüchsen mit spektakulärer Museumsarchitektur wie wir sie in jüngster Zeit erleben (er ersetzt diese Museumsarchitektur durch anonyme „Un-Orte“, die nichtsdestotrotz komplexe Verweise auf die Geschichte der Architektur der Moderne in sich bergen) wie auch zur Fähigkeit von Architektur und Kunst sich jeden Aspekt der bestehenden Realität anzueignen und in ihre Strukturen einzugliedern.

Außerdem ist diese ambivalente Anziehungskraft von (oft peripheren und missbrauchten) Strukturen der Moderne sicherlich nicht nur persönlich zu sehen. Sie gibt vielmehr dem Künstler wie dem Betrachter die Möglichkeit über die Natur der Moderne zu reflektieren, so als ob diese Strukturen Symptome wären, die auf die eigentlichen Widersprüche in der Moderne und ihre Konzepte hinwiesen. Ich habe einmal versucht Dabernigs Arbeit als eine Art persönlicher Archäologie der Moderne zu beschreiben, in der die Bewunderung für das Utopische und Rationale, aber auch ein gewisses Vergnügen an Brüchen, Diskontinuitäten und Fehlern an den ideal erdachten Strukturen zur Schau gestellt werden. Dabernig sieht die Moderne trotz ihres Universalitätsanspruchs immer als widersprüchlich und heterogen. Das heißt aber nicht, dass er allgemeine Behauptungen über Modernismus und Moderne aufstellt. Er interessiert sich für die Einzelheiten, für die tatsächlichen Orte (oder Un-Orte), für individuelle Symptome. Nur durch die Komplexität und die Widersprüche, die er in seine scheinbar distanzierten Darstellungen einbringt, weist er auf die epochalen Muster und Kämpfe hin, aus denen sie hervorgegangen sind und macht diese in einem verwahrlosten Wohnblock, einer schäbigen Bar aus den 1970er-Jahren oder einem Fußballstadion manifest.

All das sollte man bedenken, wenn man über Dabernigs eigene bauliche Projekte oder Innenraumarbeiten spricht, weil sie nicht nur auf seinen formalen Präferenzen und seinem Geschmack basieren, sondern auch auf seiner ständigen Reflexion von architektonischen, räumlichen, formalen, interpretatorischen und funktionalen Fragen, wie sie in allen Bereichen seiner Arbeit vorkommen.

Dabernigs Entwürfe verbinden minimalistische und grundsätzliche Formen, klare Räume und deren streng systematische Behandlung mit kleinen Unregelmäßigkeiten oder, besser gesagt, mit kleinen Abänderungen des Grundsystems, was schließlich zu einem komplexen Ergebnis führt. Es gibt ein bestimmtes Muster oder System, das im verschiedenen Kontext viele Male wiederholt wird und deshalb als Paradigma für Dabernigs architektonische Arbeit verstanden werden kann. Aber er verwendet es nicht nur für architektonische Projekte. Es zeigt sich oft auch in seinen Objekten, wie zum Beispiel den aus vorgefertigten Aluminiumelementen bestehenden Rastern. Man kann dieses Muster für Sequenzen von Architekturelementen verwenden und noch komplexere Ergebnisse durch die Wiederholung der Grundsequenz sowie durch Verschiebungen und Strukturspiegelungen erzielen. Dabernig hat dieses Prinzip zum Beispiel für die Fassade des Treppenhauses, das er 1995 für die Beschäftigungs–werkstätten der Lebenshilfe in Ledenitzen bei Villach entworfen hat, verwendet. Das Grundelement für die Fassade ist das Raster, aber hier wird es nicht als simple Addition oder Wiederholung von Einheiten eingesetzt, sondern als dynamischer Rhythmus. Die Hauptfassade des Stiegenhauses ist vertikal in zwei Hälften geteilt. Jede der beiden Hälften ist in Einheiten unterteilt, die sich nach einem präzisen Rhythmus vergrößern. Dieser Rhythmus wird verstärkt durch die abwechselnde Verwendung von zwei Arten von Glas. Ebenso wichtig ist die Tatsache, dass der Rhythmus der beiden Hälften nicht parallel verläuft, sondern um 180 Grad gedreht ist. Das Ergebnis ist eine gerasterte Fassade, die nicht nur dynamisch, sondern auch unregelmäßig erscheint, obwohl klar ist, dass dieser Effekt auf der strengen Befolgung der Regeln eines Systems basiert. Dasselbe System finden wir bei der Eingangshalle des früheren KELAG-Gebäudes (jetzt eine Schule) in Villach (1997). Hier hat Dabernig ein Raster und Paneele aus zweierlei Glas verwendet, aber diesmal nicht als Fassade, sondern als Wandelement, das den Raum optisch vergrößert und dynamischer macht. In diesem Fall arbeitete er mit den zwei gegenüberliegenden Wänden und hatte dadurch die Möglichkeit, die Komplexität seiner Regeln weiter zu treiben. Auf der einen Wand kombinierte er zwei verschiedene Sequenzen des ansteigenden Rhythmus; auf der gegenüberliegenden Wand drehte er das Paneel in die entgegengesetzte Richtung.

Ein interessante Tatsache und wahrscheinlich kein Zufall, sondern vielmehr Dabernigs Art und Weise mit dem Raum zu arbeiten, ist, dass er eigentlich nie ein ganzes Gebäude gebaut hat. Gewöhnlich greift er in bestehende Strukturen ein. Es scheint ein Prinzip seiner Arbeit zu sein, dass er die Strukturen im Wesentlichen unverändert lässt. Er führt zusätzliche Elemente ein oder entwickelt räumliche Systeme, die er dann in die bestehenden Raumstrukturen einfügt. Ein gutes Beispiel für diese zusätzlichen Elemente ist seine Fußgängerrampe für ein Verwaltungsgebäude in Hartberg (2000). Das hölzerne rampenartige Objekt steht in direktem Kontrast zur Beton-Glas-Fassade des Gebäudes. Die Neigung der Rampe ist die Antwort auf die von den Architekten verwendeten Formen. Das neue Objekt stellt sich als klare Reaktion auf die bestehende Architektur dar, wenn nicht gar als Kommentar, und seine Gestaltung akzentuiert einerseits deren Charakteristika, gleicht diese aber andererseits mit neuen Ideen aus. Tatsächlich berührt diese das Gebäude kaum, lässt es im Wesentlichen unverändert, fast wird der Eindruck einer provisorischen Einrichtung erweckt. Abgesehen von der Tatsache, dass diese architektonische Intervention formal minimalistisch und rational, unspektakulär und unmonumental ist, zeigen ihre Details eine spielerische, ja sogar humorvolle Annäherung. Ein Beispiel hierfür sind die Steher, welche die Rampe tragen. Sie sind alle gleich hoch, aber da die Rampe sich neigt, scheint es, als ob sie immer höher würden. Man könnte dies als selbstironische Referenz des Künstlers auf sein eigenes paradigmatisches Sequenzmuster der immer größer werdenden Einheiten ansehen.

Dabernigs Methode neue Raumsysteme innerhalb existierender Räume zu schaffen, zeigt sich ganz deutlich in seinen Innenraumentwürfen. Zwei davon sind besonders bemerkenswert: das Design für den Innenraum des Depots in Wien (1997) und die Gestaltung einer Lese- und Aufenthaltszone im MUMOK – Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien (2002). In beiden Fällen zeigt er großen Respekt für die bestehende Raumsituation. Offensichtlich wollte Dabernig die neuen Räume nicht verändern oder ein völlig neues Ambiente im Inneren schaffen. Stattdessen konstruierte er ein neues Raumsystem innerhalb des bestehenden Raumes, indem er einfach bestimmte Elemente hinein stellte und sie nach einer bestimmten Ordnung oder Struktur arrangierte. Dadurch erschließt sich eine weitere Qualität von Dabernigs Innenräumen (und wird ganz besonders deutlich am Beispiel des Raumes im Depot). Beide sind streng und präzise angeordnet und extrem offen und flexibel. Er erreicht das, indem er (nur die notwendigsten) Möbelstücke in den Raum setzt. Diese Möbel – entweder von Dabernig selbst entworfen oder im Handel gekauft – sind immer schlicht, ohne Dekor, minimalistisch und geometrisch. Und obwohl das Arrangement der architektonischen Elemente genau determiniert und kalkuliert ist, kann der Raum, wenn nötig, auch verändert und später dann wieder in Ordnung gebracht werden. Der Besucherraum im MUMOK ist ebenfalls ein gutes Beispiel für Dabernigs Art und Weise Innenräume zu entwerfen (oder besser gesagt, zu arrangieren). Der Künstler hat die notwendigen Elemente nach einem ganz präzisen Plan basierend auf geraden und diagonalen Linien angeordnet. Er verwendete industriell gefertigte Möbel (das Design mancher Stücke erinnert an die 1970er-Jahre). Bei der Auswahl der Stücke legt er Wert auf ihre Schlichtheit und ihren formalen Minimalismus. Ich glaube es ist für sein Raumverständnis wichtig, dass die Möbelstücke nicht „designt“ wirken, d.h. ästhetisiert oder wie Luxusobjekte. Sie mögen im Gegenteil vielleicht etwas seltsam und inszeniert wirken, doch das korreliert mit der strengen Anordnung. An der Wand platzierte er zwei Bücherregale und einen Getränkeautomaten und schuf damit einen monumentalen Triptychon mit einem banalen, Verkaufsautomaten in der Mitte. (Dabernig wusste natürlich, dass gerade der Museumsraum diese Banalität veredeln würde, wir brauchen nur an die Kunstwerke denken, die sich mit Produkten der Massenkultur beschäftigen – angefangen von der Pop Art bis zu den Gegenwartskünstlern, die sich die Konsumgesellschaft zum Thema nehmen. Es handelt sich hier nicht um ein Beispiel institutioneller Kritik im üblichen Sinn, aber es ist doch eine ironische Referenz auf den Machtdiskurs wie er von den Museen im System der Gegenwartskunst geführt wird – ein Diskurs, der sich oft in der Monumentalität der Museumsarchitektur ausdrückt.) Der allgemeine Eindruck ist nicht der eines Freizeitraumes. Hier herrscht – auf Grund der Strenge der Bezüge und Formen – eine besondere Spannung und Ernsthaftigkeit. Dem Besucher mag das System, das dem Arrangement zu Grunde liegt, nicht sofort auffallen, aber die räumlichen Relationen üben eine gewisse Anziehungskraft aus, welche einlädt nicht nur die Ordnung hinter dem Arrangement zu entdecken, sondern auch spielerische und ironische Details und Anspielungen, die Dabernig in den Raum eingeführt hat.

Die von Dabernig für die Ausstellung Individual Systems entworfene Ausstellungsarchitektur (welche ich für die Biennale von Venedig 2003 kuratiert habe) stellt meiner Meinung nach eine Art Synthese seines Umgangs mit Architektur und Innenräumen dar. Wiederum hat er das System der immer größer werdenden Einheiten verwendet. Der Raum der Corderie, in dem die Ausstellung stattfand, hat eine Art modularen oder rasterähnlichen Grundriss. Außerdem ist er markant lang gestreckt. Dabernigs Entwurf verstärkte die Längsrichtung, indem er den Mittelgang frei ließ, während er für die beiden Seitentrakte den Rhythmus stetig (in diesem Fall) kleiner werdender Einheiten einführte. Diese Einheiten bestanden aus abwechselnd offenen und geschlossenen Räumen. Der Trakt links vom Eingang begann mit einem geschlossenem Raumsegment bestehend aus zwei Einheiten und setzte sich mit einem offenen Segment bestehend aus eineinhalb Einheiten fort. Darauf folgten der Reihe nach ein geschlossenes Segment mit eineinhalb Einheiten, ein offenes Segment aus einer Einheit, und die Reihe endete mit einem geschlossenen Raumsegment aus ebenfalls einer Einheit. Auf der rechten Seite herrschte der gleiche Rhythmus (wir mussten die Struktur jedoch ein wenig nach den Bedürfnissen der Künstler abändern), dieser war jedoch um eine Einheit nach vorne verschoben. Die Einheiten wurden nicht nur fortlaufend kleiner, sie wurden auch allmählich niedriger. Solcherart akzentuierte Dabernig die Längsrichtung des Raumes und übertrieb den perspektivischen Effekt. (Wenn man den Raum von der anderen Seite betrat, hatte die Struktur – in Missachtung der Perspektive – natürlich genau die umgekehrte Wirkung.) Das System erlaubte die Einrichtung der für die Ausstellung erforderlichen White-Cube-Räume (als individuelles System bot es separate Räume für andere individuelle Systeme). Aber Dabernig wollte die Balance zwischen den weißen Räumen und der Corderie erhalten. Sein Entwurf war eigentlich eine Mischung aus zwei Raumsystemen, anstatt ein System mit dem Überstülpen eines anderen Systems unsichtbar zu machen. Er war sehr darauf bedacht, den Corderie-Raum so unberührt und sichtbar wie nur möglich zu lassen. Daher folgten die neu installierten Räume den Formen der bestehenden Architektur, deren Abmessungen jedoch nicht ganz regelmäßig sind, so dass die Wände der weißen Räume oft nicht im rechten Winkel standen. Außerdem ließ er alle Säulen – das wichtigste Charakteristikum der Corderie – frei; es gab immer einen Zwischenraum zwischen den Säulen und den eingesetzten Wänden. Die Räume waren also nicht komplett rechtwinkelig und auch nicht vollständig geschlossen, aber White-Cube genug, um als Ausstellungsort zu funktionieren. Sie waren auch nicht komplett isoliert, sondern durch die Zwischenräume mit den Räumen rundum verbunden.

In seinem Entwurf der Ausstellungsarchitektur entwickelte Dabernig ein strenges und präzises System, das jedoch immer auch Unvollständigkeiten zuließ – nicht als Fehler, sondern als integraler Bestandteil. Es war deshalb auch beschränkt möglich, den Rhythmus der Räume zu ändern, wenn die Künstler mehr Platz oder einen genau rechtwinkeligen Raum forderten. Trotz aller Flexibilität und Offenheit legte das Raumsystem der Individual Systems die tief greifenden Widersprüche bloß, welche der Architektur der Moderne inhärent sind. Es zeigte Dabernigs Bewunderung für einfache und rationale modernistische Formen, aber auch sein Wissen um die Beziehung dieser Formen zu den utopischen Ideen einer perfekt organisierten Welt und den total kontrollierten Gesellschaften in repressiven und totalitären Regimen. Solcherart hatte der räumliche Rhythmus eine mehrfache Wirkung, indem er Anziehungskraft, Präzision, Flexibilität, Ironie, Verspieltheit und Drohung verknüpfte. Die Tatsache, dass Dabernig sein eigenes Projekt Envisioning Bucharest in der Ausstellung zeigte, macht deutlich, dass die Hinweise keine zufälligen waren. In dem Vorschlag für Bukarest verwendete er dasselbe System von Einheiten, das
auf zunehmenden Abständen und Höhen – so wie in der Ausstellungsarchitektur –
basiert. Grundlage für das System ist die absurde Brutalität von Ceausescus Palast (Brutalität gegenüber der Stadt als Symbol der Brutalität der Gesellschaft). In diesem Vorschlag verkehrt sich die präzise und rational modernistische Logik des Systems in eine übertriebene Absurdität (in dem Projekt soll der Palast das kleinste Element in einem Netz von gigantischen Strukturen sein, die als eine Art Raster über die Stadt projiziert werden sollen). Gleichzeitig wieder wird die übertriebene Absurdität zum Gegenmittel für das vom Palast verursachte Ungleichgewicht. Letztlich weist dies alles auf eine gewisse therapeutische Dimension von Dabernigs Werk hin, das Bestreben sich durch „die Moderne zu arbeiten“, ihre Widersprüche bloß zu legen und ihr die Stirn zu bieten in einem (vielleicht endlosen) Versuch traumatische Auswirkungen aufzufangen.

1 Rosalind E. Krauss, The Originality of the Avant-Garde and Other Modernist Myths. MIT Press, Cambridge, MA, and London, 1986, S. 13.
2 Die deutsche Übersetzung des Textes von Renata Šcˇerbavicˇiu˝te˙ Die Welt gemäß Dabernig und ein Auszug der Internet-Diskussion sind auf Dabernigs Website dabernig.nfo.at zu finden.
3 Ich sage „postindustrialisierte“ nicht „postindustrielle“, weil die Landschaft in den sozialistischen Ländern programmatisch „industrialisiert“ worden ist, um nichts weniger aus ideologischen als aus wirtschaftlichen Gründen.
4 In diesem Zusammenhang finde ich einige Bemerkungen von Ole Bouman aufschlußreich. In einer Diskussion über die konstruierten Fotografien von Edwin Zwakman, welche niederländische Sozialwohnungen aus den 1950er- und -60er-Jahren zum Thema haben, sagte er, diese Bilder zeigten drei Attitüden gegenüber dieser Architektur auf. Die erste sei der utopische Optimismus der sozialen Modernisierung, die zweite die Desillusionierung hervorgerufen durch das Leben in solchen Siedlungen (und mit der Idee der Modernisierung überhaupt), die dritte – und jüngste – ein nostalgisches Verhältnis zu diesen Gebäuden.
5 Wir wollen nicht behaupten, dass die Beschäftigung mit modernistischer Architektur und Stadtplanung in Osteuropa (oder auch anderen sozialen Randgebieten Europas) und Neubewertung von Konzepten und formalen Lösungen etwas Unethisches sei. Ich halte sie, im Gegenteil, für sehr wichtig, auch als Teil des Überdenkens der Moderne und ihrer Traditionen. Das Bewusstsein, dass die „sozialistische Moderne“ in Osteuropa (oder die „faschistische Moderne“ in Italien) ein funktioneller Teil repressiver und totalitärer Regime war, sollte uns nicht daran hindern konzeptuelle und formelle Qualitäten in ihr zu finden. Aber es ist auch wichtig, dass wir ihre ambivalente Natur nicht vergessen, diese Synthese von utopischen Visionen und repressiver Realität, wenn wir so ein Projekt richtig verstehen wollen, und wenn wir wollen, dass es uns hilft, die widersprüchliche Natur der Moderne zu verstehen.

Dabernig, Josef. Film, Foto Text Objekt, Bau
Deutsch/Englisch. 212 S. mit ca. 280 s/w Abb., Herausgegeben von Barbara Steiner für GfZK Leipzig. Erschienen im Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 2005. Mit Textbeiträgen von Silvia Eiblmayr, Christian Kravagna, Matthias Michalka, Barbara Steiner und Igor Zabel

Igor Zabel
2005